Jahresberichte

Amnesty Reports – Ukraine

Inhaltsverzeichnis

Amnesty Report 2022 – Ukraine

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Ein Mann schiebt ein Fahrrad durch einen komplett zerstörten Straßenzug. Fast alle Häuser sind zerstört. Auf der Straße stehen zerstörte und ausgebrannte Panzer. Durch ukrainische Truppen zerstörte russische Panzer und Militärfahrzeuge im Apil 2022 in der ukrainischen Stadt Butscha, in der die russischen Invasoren während ihrer Besatzung Gräueltaten an der Zivilbevölkerung verübten. © Getty Images

 

Russland begann am 24. Februar 2022 unter Verstoß gegen die UN-Charta eine groß angelegte Militärinvasion in die Ukraine, die ein Akt der Aggression ist und somit ein Völkerrechtsverbrechen darstellt. Die russischen Streitkräfte verübten wahllose Angriffe, die zu Tausenden Opfern in der Zivilbevölkerung führten. Darüber hinaus traten nach und nach immer mehr Belege für weitere Verbrechen wie Folter, sexualisierte Gewalt und rechtswidrige Tötungen zutage. Russische Angriffe auf die zivile Infrastruktur führten auch zu Verletzungen der Rechte auf Wohnen, Gesundheit und Bildung. Durch ein neues Mediengesetz erhielt die staatliche ukrainische Medienaufsicht unverhältnismäßig weitreichende Befugnisse. Das angekündigte neue Gesetz zu eingetragenen Lebenspartnerschaften soll offenbar gleichgeschlechtliche Beziehungen einschließen. Der Krieg verstärkte die bestehende Benachteiligung von Frauen und die geschlechtsspezifische Gewalt nahm laut Berichten zu. Auf der von Russland besetzten Krim gingen die Behörden weiterhin mit aller Härte gegen Andersdenkende und Menschenrechtsverteidiger*innen vor.

 

Hintergrund

Am 24. Februar 2022 begann Russland eine groß angelegte Militärinvasion in die Ukraine, auch vom benachbarten Belarus aus. Die russischen Streitkräfte erreichten die Außenbezirke der Hauptstadt Kiew und eroberten Gebiete im Osten und Süden des Landes, bevor sie in heftigen Kämpfen zurückgedrängt wurden. Ende 2022 hatten sich die russischen Streitkräfte aus einem Großteil der neu eroberten Gebiete zurückgezogen, behielten jedoch im Osten, Südosten und Süden der Ukraine die Kontrolle über beträchtliche Teile des Staatsgebiets, einschließlich der Krim.

Der Krieg hatte immense Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung in der Ukraine. Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte wurden 2022 mindestens 6.884 Zivilpersonen getötet und mindestens 10.947 verletzt. Die tatsächlichen Zahlen dürften jedoch deutlich höher sein. Die meisten Opfer unter der Zivilbevölkerung wurden durch den Einsatz von Explosivwaffen mit großer Reichweite verursacht.

Fast 8 Millionen Ukrainer*innen verließen 2022 das Land, vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen. Es handelte sich um die größte Flüchtlingsbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Zudem wurden Schätzungen zufolge fast 7 Millionen Menschen innerhalb des Landes vertrieben.

Im September 2022 kündigte Russland die rechtswidrige Annexion von vier teilweise besetzten Regionen der Ukraine an.

Der Krieg bestimmte das öffentliche, politische und zivile Leben in der Ukraine. Am 24. Februar 2022 wurde das Kriegsrecht verhängt, das am Jahresende immer noch in Kraft war. Die ukrainischen Behörden ergriffen verschiedene Maßnahmen, um Russlands medialen, kulturellen und politischen Einfluss im Land zurückzudrängen. So sperrten sie den Zugang zu mehreren russischen Internetdiensten und verboten mindestens elf politische Parteien, die ihrer Ansicht nach Verbindungen zu Russland hatten und aufwieglerische Aktivitäten durchführten.

Eine der beiden großen orthodoxen Kirchen, die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die im Gegensatz zur Orthodoxen Kirche der Ukraine dem Moskauer Patriarchat unterstand, änderte im Mai 2022 ihr Kirchenstatut und erklärte sich offiziell für unabhängig und selbstständig, doch blieb ihr Verhältnis zu Moskau unklar. Ungeachtet dessen kündigten die Behörden im Dezember an, die Aktivitäten der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche in der Ukraine verbieten zu wollen. Sie leiteten eine Untersuchung zu deren mutmaßlich subversiven Aktivitäten ein und durchsuchten Kirchen und Klöster im ganzen Land.

Die Weltbank prognostizierte im April, das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine könnte 2022 im Vergleich zum Vorjahr um etwa 45 Prozent einbrechen, und meldete im Oktober, die Armutsquote des Landes habe sich 2022 verzehnfacht. Die Zahl der Kinder, die in Armut lebten, stieg um beinahe eine halbe Million. Im Dezember bezifferte eine Vertreterin der Weltbank die Kosten für den Wiederaufbau auf geschätzte 500 bis 600 Mrd. Euro. Die Arbeitslosenquote lag Ende 2022 bei mehr als 30 Prozent.

 

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Die russische Invasion hatte in der Ukraine schwerwiegende Folgen für die Menschenrechte und die humanitäre Lage und löste eine Vertreibungskrise aus. Russische Streitkräfte führten wahllose Angriffe durch und setzten Waffen mit großflächiger Wirkung ein, die Tausende Zivilpersonen töteten und verletzten. Am 30. September 2022 wurden bei einem russischen Raketenangriff auf einen Hilfskonvoi in Saporischschja mindestens 25 Zivilpersonen getötet. Die russischen Truppen besetzten weite Teile des Landes und verweigerten der dortigen Zivilbevölkerung den Zugang zu humanitärer Hilfe. Nachdem die Ukraine die Kontrolle über einige Gebiete zurückerlangt hatte, tauchten immer mehr Beweise dafür auf, dass Angehörige der russischen Streitkräfte für rechtswidrige Freiheitsberaubung sowie Folter, sexualisierte Gewalt, rechtswidrige Tötungen und andere Verbrechen verantwortlich waren.

In den von Russland besetzten Gebieten schalteten die russischen Behörden die ukrainischen Kommunikationskanäle ab oder unterbrachen sie und ersetzten z. B. ukrainische Mobilfunknetze durch russische. Bewohner*innen der besetzten Gebiete, die über Angriffe in diesen Gebieten berichteten, wurden von den russischen Behörden ins Visier genommen und u. a. entführt, rechtswidrig inhaftiert und gefoltert. Es gab Berichte über außergerichtliche Hinrichtungen von Zivilpersonen. So dokumentierte Amnesty International in Butscha fünf mutmaßliche außergerichtliche Hinrichtungen, die während der russischen Besetzung im März 2022 verübt wurden.

Aufgrund der Kommunikationsbeschränkungen und des fehlenden Zugangs unabhängiger Medien und Beobachter*innen zu den von Russland besetzten Gebieten war es schwer, Berichte über Militärschläge zu überprüfen, die den ukrainischen Streitkräften zugeschrieben wurden. Hierzu gehörten auch Angriffe, die Tote bzw. Verletzte oder Schäden an der zivilen Infrastruktur zur Folge hatten. Russische Staatsbedienstete und staatlich kontrollierte Medien erhoben regelmäßig Vorwürfe bezüglich rechtswidriger ukrainischer Angriffe, von denen sich einige als falsch erwiesen. So machten die russischen Behörden die ukrainischen Streitkräfte für die Zerstörung des Theaters in Mariupol am 16. März 2022 verantwortlich, obwohl eindeutige Beweise dafür vorlagen, dass das Gebäude, in dem Hunderte Zivilpersonen Zuflucht gesucht hatten, von der russischen Luftwaffe gezielt angegriffen wurde.

 

Kriegsgefangene

Kriegsgefangene waren Misshandlungen ausgesetzt und wurden möglicherweise Opfer außergerichtlicher Hinrichtungen. Die russischen Streitkräfte und von Russland unterstützte bewaffnete Gruppen verweigerten Hilfsorganisationen zumeist den Zugang zu Gefangenen in ihrem Gewahrsam. Im August 2022 kündigten die Vereinten Nationen eine Ermittlungsmission zu einer Explosion im Gefangenenlager in Oleniwka an, bei der im Juli Dutzende ukrainische Kriegsgefangene getötet worden waren, die sich in Gewahrsam moskautreuer Kräfte befunden hatten. Die Ermittler*innen erhielten jedoch keinen Zugang zum Ort des Geschehens. Die Ukraine bestritt, für den Angriff auf das Gefangenenlager verantwortlich zu sein, und erklärte, es habe sich um eine vorsätzliche Tötung durch die russischen Streitkräfte gehandelt.

Fotos und Videos, die in den Sozialen Medien kursierten, zeigten Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen sowie mögliche außergerichtliche Hinrichtungen, die als Kriegsverbrechen gelten würden. Im Juli 2022 tauchten Videos auf, auf denen zu sehen ist, wie ein russischer Soldat einen ukrainischen Gefangenen kastriert und anschließend tötet. Berichten zufolge verhörten russische Sicherheitsdienste den mutmaßlichen Täter und taten das Video als Fälschung ab, obwohl unabhängige Ermittler*innen es verifiziert hatten.

Die Ukraine sah sich Forderungen gegenüber, die Misshandlung und Tötung russischer Gefangener zu untersuchen. Im November 2022 wurden in den Sozialen Medien Videos und Fotos veröffentlicht, die eine mögliche außergerichtliche Hinrichtung zeigten. Auf einem Video ist zu sehen, wie mindestens zehn russische Soldaten, die sich ergeben hatten, mit dem Gesicht nach unten, aber lebend, auf dem Boden liegen, während sie auf einem späteren aus der Luft gefilmten Video tot sind. Die Ukraine leitete eine Untersuchung ein, deren Ergebnisse Ende 2022 jedoch noch nicht veröffentlicht waren.

 

Unfaire Gerichtsverfahren

Im Juni 2022 sprach ein separatistisches “Gericht” in der von Russland besetzten Stadt Donezk unter Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht drei Angehörige der regulären ukrainischen Streitkräfte (einen Marokkaner und zwei Briten) “schuldig”, sich als ausländische Söldner an Kampfhandlungen beteiligt zu haben, und “verurteilte” sie zum Tode. Im Juli behaupteten die russischen Behörden, sie hätten bereits 92 ukrainische Kriegsgefangene wegen “Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit” angeklagt und planten, sie im besetzten Mariupol vor ein “internationales Tribunal” zu stellen. Dies würde gegen das Recht der Kriegsgefangenen auf ein faires Verfahren verstoßen.

 

Vertreibung

Die russischen Behörden siedelten Zivilpersonen aus Mariupol und anderen Orten der besetzten ukrainischen Gebiete gegen ihren Willen um und verschleppten sie. Dabei handelte es sich um Kriegsverbrechen und wahrscheinlich auch um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Zivilbevölkerung wurde außerdem gezwungen, sich einem Überprüfungsprozess zu unterziehen, den die russischen Behörden als “Filtration” bezeichneten. Dabei wurden einige der verschleppten Zivilpersonen gefoltert und anderweitig misshandelt, u. a. durch Schläge, Elektroschocks und Hinrichtungsdrohungen. Andere erhielten weder Nahrung noch Wasser und wurden unter gefährlichen Bedingungen in überfüllten Einrichtungen festgehalten. In einigen Fällen wurden Kinder von ihren Eltern getrennt. Nach ihrer Zwangsumsiedlung oder Verschleppung befanden sich ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und unbegleitete bzw. von ihren Eltern getrennte oder verwaiste Kinder in einer besonders schwierigen Lage. Sie hatten häufig nicht die finanziellen Mittel, die notwendige Unterstützung oder das Recht, Russland oder die russisch besetzten Gebiete wieder zu verlassen.

 

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Am 2. März 2022 leitete der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Ermittlungen zu den in der Ukraine verübten Verbrechen ein, nachdem 39 Vertragsstaaten des IStGH eine beschleunigte Aufnahme dieser Ermittlungen gefordert hatten. Die Ukraine selbst hatte das Römische Statut noch nicht ratifiziert. Am Jahresende dauerten die Ermittlungen noch an. Am 4. März 2022 stimmte der UN-Menschenrechtsrat für die Einrichtung einer Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission zur Ukraine.

Am 17. November 2022 sprach ein niederländisches Gericht zwei russische und einen ukrainischen Staatsbürger mit Verbindungen zur sogenannten Volksrepublik Donezk schuldig, alle 298 Menschen ermordet zu haben, die sich an Bord des Flugzeugs der Malaysia Airlines befunden hatten, das im Juli 2014 über der Ostukraine abgeschossen wurde, und verurteilte die Angeklagten in Abwesenheit zu lebenslanger Haft.

 

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Der russische Angriffskrieg stellte die ukrainische Bevölkerung vor große Entbehrungen und führte zu einer dramatischen Verschlechterung des Lebensstandards, u. a. im Hinblick auf Wohnen, Gesundheit und Bildung.

In der zweiten Hälfte des Jahres 2022 intensivierte Russland seine Angriffe auf grundlegende zivile Infrastruktureinrichtungen wie die Strom- und Wasserversorgung und verschärfte somit die wirtschaftliche Notlage vorsätzlich noch weiter. Zu Beginn der kalten Jahreszeit sorgten Raketen- und Drohnenangriffe dafür, dass mindestens 40 Prozent der ukrainischen Energieinfrastruktur schwer beschädigt wurden, was immer wieder zu großflächigen Stromausfällen führte. Die Angriffe schnitten regelmäßig Millionen Ukrainer*innen gleichzeitig von der Stromversorgung ab, legten die Gesundheitsversorgung, das Bildungswesen und andere wichtige Einrichtungen lahm und beeinträchtigten die Heizungs- und Wasserversorgung der Bevölkerung bei Minusgraden. Zeitweise hatten 80 Prozent der Bewohner*innen von Kiew kein fließendes Wasser.

Nach Angaben der privaten Hochschule Kyiv School of Economics wurden bis Ende Oktober 2022 landesweit mehr als 126.700 Häuser und 16.800 Wohnblöcke zerstört oder schwer beschädigt. Das ukrainische Gesundheitsministerium teilte im Dezember mit, dass 144 Gesundheitseinrichtungen zerstört und weitere 1.100 beschädigt worden seien.

 

Arbeitnehmer*innenrechte

Im Juli 2022 wurden zwei Gesetze verabschiedet, die die Arbeitnehmer*innenrechte aushöhlten und schätzungsweise 70 Prozent der ukrainischen Arbeitskräfte betrafen. Die ukrainischen Behörden erklärten, in Kriegszeiten seien diese Maßnahmen nötig. Ähnliche Bestimmungen waren bereits 2020 und 2021 vorgeschlagen, nach Protest der Gewerkschaften und Kritik der Internationalen Arbeitsorganisation aber zurückgezogen worden. Das erste der beiden Gesetze erlaubte sogenannte Null-Stunden-Verträge für bis zu zehn Prozent der Beschäftigten eines Unternehmens, vorbehaltlich einer garantierten bezahlten Mindestarbeitszeit von 32 Stunden pro Monat. Das zweite Gesetz befreite Unternehmen mit maximal 250 Beschäftigten von verschiedenen Schutzbestimmungen im Arbeitsrecht, einschließlich gewerkschaftlich ausgehandelter Tarifverträge. Viele der Bestimmungen sollten bis zur Aufhebung des Kriegsrechts in Kraft bleiben.

 

Rechte älterer Menschen

Unter den Zivilpersonen, die bei Angriffen getötet oder verletzt wurden, befanden sich unverhältnismäßig viele ältere Menschen. Von den getöteten Zivilpersonen, deren Alter bekannt war, waren 34 Prozent über 60 Jahre alt. Ältere Menschen, insbesondere Personen mit Behinderungen oder gesundheitlichen Problemen, waren oft nicht in der Lage, private oder kommunale Schutzeinrichtungen aufzusuchen oder umkämpfte Gebiete zu verlassen. In besetzten Gebieten, in denen die russischen Streitkräfte humanitäre Hilfsleistungen verhinderten, hatten ältere Menschen keinen Zugang zu Medikamenten und medizinischer Versorgung. Vertriebene hatten zudem Schwierigkeiten, eine neue Bleibe zu finden, weil die Notunterkünfte in der Regel nicht barrierefrei waren. Außerdem war es ihnen aufgrund ihrer geringen Renten nicht möglich, sich auf dem privaten Wohnungsmarkt eine neue Wohnung zu suchen. Ab Februar 2022 wurden mindestens 4.000 ältere Menschen in Pflegeheime und andere staatliche Einrichtungen gebracht, die überlastet waren und in denen schlechte Bedingungen herrschten. Andere blieben in ihren beschädigten Wohnungen, wo sie ohne Strom, Heizung und fließendes Wasser lebten.

 

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im März 2022 wurden alle nationalen Fernsehsender, die fundierte Nachrichten und Kommentare boten, per Dekret des Präsidenten zu einer gemeinsamen Nachrichtenplattform zusammengelegt, die rund um die Uhr einheitliche Informationen ausstrahlen sollte. Die zunächst verbindliche Regelung wurde im Laufe des Jahres gelockert.

Am 13. Dezember 2022 wurde ein Mediengesetz verabschiedet, das die Befugnisse der Medienaufsichtsbehörde (Nationaler Fernseh- und Rundfunkrat) über Gebühr ausweitete. Laut dem Gesetz kann die Behörde jedes Medienunternehmen verwarnen, mit Geldstrafen belegen und dessen Zulassung vorübergehend oder endgültig entziehen sowie Onlinedienste, bei denen es sich nicht um Medien handelt, ohne Gerichtsbeschluss vorübergehend sperren.

 

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Die Belastungen des Krieges führten zu einer stärkeren Solidarität mit Gruppen, die zuvor ausgegrenzt waren. Anders als im Jahr 2014, als die Kämpfe in der Ostukraine begannen und LGBTI+ in den ukrainischen Streitkräften nicht erwünscht waren, berichteten offen schwul, lesbisch und trans lebende Freiwillige und Wehrpflichtige 2022, sie seien in den Reihen des Militärs nun willkommen und würden respektiert.

Im Juli 2022 hatte eine Petition, in der die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe gefordert wurde, die Mindestzahl von 25.000 Unterschriften erreicht, die notwendig war, um eine Prüfung des Anliegens durch den Präsidenten zu erreichen. Im August 2022 deutete Präsident Selenskyj an, dass er die Initiative unterstütze, wies jedoch darauf hin, dass die dafür notwendige Änderung der Verfassung während des Kriegsrechts nicht möglich sei. Stattdessen stellte er ein Gesetz zu eingetragenen Lebenspartnerschaften in Aussicht und gab zu verstehen, dass dieses auch für gleichgeschlechtliche Paare gelten würde.

Trans Personen, in deren Ausweisdokumenten ein Geschlecht angegeben war, das nicht ihrer Geschlechtsidentität entsprach, berichteten, sie seien bei dem Versuch, das Land zu verlassen, schikaniert oder an der Ausreise gehindert worden. Hintergrund war, dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren laut Kriegsrecht nicht ausreisen durften.

 

Frauenrechte

Frauen übernahmen zunehmend Tätigkeiten, die zuvor überwiegend von Männern ausgeführt worden waren, insbesondere in den Streitkräften, doch waren sie auf politischer Ebene ebenso wie in anderen Entscheidungspositionen weiterhin unterrepräsentiert.

Teilweise verschärften sich bestehende Ungleichheiten sogar noch. UN Women teilte mit, dass in den vom Krieg betroffenen Gebieten mehr als ein Drittel der von Frauen geführten Haushalte Schwierigkeiten habe, eine ausreichende Lebensmittelversorgung sicherzustellen.

Der Konflikt hatte auch erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Betreuung von Schwangeren und Müttern. Die russischen Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und die Stromversorgung sowie ein Mangel an geschultem Personal führten dazu, dass die entsprechende Versorgung stark eingeschränkt war und die Zahl der Frühgeburten deutlich anstieg.

Zahlreiche Organisationen, die mit von häuslicher Gewalt Betroffenen arbeiteten, berichteten, dass die geschlechtsspezifische Gewalt zugenommen habe und es zugleich immer weniger Unterstützungsangebote gebe.

Aus den von Russland besetzten Gebieten wurden Kriegsverbrechen wie Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt gemeldet. Behörden und NGOs hatten aus vielfältigen Gründen – u. a. aufgrund des Misstrauens der Überlebenden und ihrer Furcht vor gesellschaftlicher Stigmatisierung – Schwierigkeiten, diese Fälle zu dokumentieren.

Im Juli 2022 ratifizierte die Ukraine das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention). Am 1. November trat das Abkommen in der Ukraine in Kraft.

 

Umweltzerstörung

Der Krieg wirkte sich verheerend auf die Umwelt aus: Er führte zum Verbrauch riesiger Mengen fossiler Brennstoffe, zerstörte Lebensräume, verursachte Waldbrände und verseuchte die Luft, das Wasser und den Boden der Ukraine mit giftigen Substanzen.

Das russische Vorgehen im Krieg erhöhte die Gefahr eines atomaren Zwischenfalls. Nachdem Russland am 4. März 2022 die Kontrolle über das Atomkraftwerk in Saporischschja erlangt hatte, wurden dort russische Streitkräfte und militärisches Gerät stationiert. Es gab wiederholt Berichte über Explosionen in der unmittelbaren Umgebung des Atomkraftwerks, für die sich beide Seiten gegenseitig die Schuld gaben. Die Angriffe führten zu Schäden an der Anlage. Im September 2022 wurde auch der letzte noch aktive Reaktor abgeschaltet. Verhandlungen unter Leitung der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) über die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone um die Anlage waren Ende des Jahres noch nicht abgeschlossen.

Im November führten russische Angriffe auf das ukrainische Stromnetz zu einer Notabschaltung aller ukrainischen Kernreaktoren. Angesichts der Gefahren, die ein wiederholtes Abschalten und Wiederhochfahren von Atomreaktoren mit sich bringt, beschrieb die IAEA die Situation als “prekär, schwierig und potenziell gefährlich”.

 

Krim

Im Gegensatz zu anderen russisch besetzten Gebieten war die Krim, die 2014 rechtswidrig annektiert worden war, weniger vom Krieg betroffen. Es kam zu gelegentlichen ukrainischen Angriffen, die Schiffen oder Flughäfen galten, sowie einer Explosion, bei der die Brücke zwischen der Halbinsel und Russland teilweise zerstört wurde.

 

Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Die De-facto-Behörden auf der Halbinsel Krim unterdrückten die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit weiterhin mit aller Härte. Bekannte krimtatarische Vertreter*innen und Aktivist*innen, Personen mit pro-ukrainischen Ansichten und Angehörige religiöser Minderheiten waren ständigen Repressalien ausgesetzt. Darbietungen ukrainischer Kultur und Musik waren faktisch strafbar, und mehrere Personen wurden zu Verwaltungshaft oder hohen Geldstrafen verurteilt, weil sie bei privaten Veranstaltungen ukrainische Lieder gespielt hatten.

Lokale Rechtsbeistände, die Menschen vertraten, die aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt wurden, mussten mit rechtswidrigen Durchsuchungen, willkürlichen Festnahmen, hohen Geldstrafen und Verwaltungshaft rechnen. Am 15. Juli 2022 wurde den Rechtsbeiständen Lilya Gemedzhi, Rustem Kyamilev und Nazim Sheikhmambetov die Zulassung entzogen, offenbar als Vergeltung dafür, dass sie krimtatarische Aktivist*innen verteidigt hatten.

Der gewaltlose politische Gefangene Nariman Dschelal, das prominenteste noch auf der Krim verbliebene ehemalige Mitglied der willkürlich verbotenen krimtatarischen Volksvertretung (Medschlis), wurde im September 2022 aufgrund konstruierter Sabotagevorwürfe zu 17 Jahren Haft verurteilt. Seine Mitangeklagten erhielten ebenfalls lange Gefängnisstrafen.

Den Bericht auf Deutsch finden Sie hier.
Den Bericht auf Englisch finden Sie hier.

 


Amnesty Report 2021 – Ukraine

Für LGBTI-Rechte und Gleichberechtigung: Amnesty-Mitglieder beim "Equality March Kyiv Pride 2021" in der ukrainischen Hauptstadt Kiew am 19. September 2021. © Helen Angelova for Amnesty International Ukraine

Für LGBTI-Rechte und Gleichberechtigung: Amnesty-Mitglieder beim “Equality March Kyiv Pride 2021” in der ukrainischen Hauptstadt Kiew am 19. September 2021. © Helen Angelova for Amnesty International Ukraine

Berichtszeitraum: 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Es herrschte nach wie vor weitgehende Straflosigkeit bei Folter. Geschlechtsspezifische Gewalt blieb weitverbreitet, auch wenn ein neues Gesetz rechtliche Bestimmungen beseitigte, die Militär- und Polizeiangehörige zuvor faktisch davor bewahrt hatten, wegen häuslicher Gewalt strafrechtlich verfolgt zu werden.

Es gab weiterhin homosexuellenfeindliche Angriffe durch Gruppen, die Diskriminierung und Gewalt propagierten. Angriffe auf Journalist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen wurden nur schleppend und häufig erfolglos untersucht. Ein Gesetzentwurf sah zusätzliche Überwachungsbefugnisse für die Geheimdienste ohne rechtliche Schutzmaßnahmen vor. Auf der besetzten Krim setzte sich das harte Vorgehen gegen Andersdenkende und Menschenrechtler_innen fort. Nach wie vor fanden keine Untersuchungen zu den in der Ostukraine von beiden Seiten begangenen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht statt.

Hintergrund

Die Wirtschaft konnte sich 2021 teilweise von den Verlusten erholen, die sie im Jahr zuvor durch die Coronapandemie und den fortdauernden Konflikt im Donbass erlitten hatte. Die Korruption im Land sorgte weiterhin für Besorgnis: In den Pandora Papers, die geheime Offshore-Geschäfte enthüllten, wurde neben 37 weiteren Personen aus der ukrainischen Politik auch der amtierende Präsident als ehemaliger Nutznießer von Offshore-Firmen genannt. Im Oktober 2021 ersetzte das Parlament den Parlamentspräsidenten, nachdem dieser sich gegen die rasche Verabschiedung eines Gesetzes ausgesprochen hatte, das den Einfluss von Oligarch_innen begrenzen sollte. Im Dezember 2021 wurde der ehemalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko in einem Fall von Hochverrat als Verdächtiger genannt.

Obwohl Impfungen gegen Covid-19 weitverbreitet und kostenlos zur Verfügung standen, war die Impfquote niedrig. In dem von der Regierung kontrollierten Gebiet waren nur etwa 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung geimpft.

Im Mai 2021 verabschiedete das Parlament Änderungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung, um diese an das internationale Strafrecht anzugleichen. Die Reform sah vor, Verbrechen der Aggression, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere spezifische Kriegsverbrechen umfassender zu definieren, die Verjährung dieser Verbrechen aufzuheben und die Anwendung des Weltrechtsprinzips einzuführen. Am Jahresende hatte der Präsident die Änderungen allerdings noch nicht unterzeichnet, und die Ratifizierung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs stand immer noch aus.

Im Donbass beschuldigten sich Regierungstruppen und von Russland unterstützte bewaffnete Gruppen wiederholt gegenseitig, die Waffenruhe verletzt zu haben. Russland weigerte sich, das Mandat der Sonderbeobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) an zwei russisch kontrollierten Grenzübergängen zu verlängern, und zog wiederholt seine Truppen in der Nähe der ukrainischen Grenze zusammen, was Befürchtungen auslöste, es könne zu einer russischen Invasion kommen. Die Krim war weiterhin von Russland besetzt.

Folter und andere Misshandlung

2021 wurden einige Fortschritte bei der strafrechtlichen Verfolgung in Verbindung mit den Todesfällen während der “Euromaidan”-Proteste im Jahr 2014 gemeldet. Dazu gehörte auch der Prozess gegen mehrere für die Polizei tätige Agenten (Titushki) und einige ehemalige Polizisten, gegen die zum Teil in Abwesenheit verhandelt wurde. Für die meisten Opfer polizeilicher Übergriffe während der damaligen Proteste gab es jedoch keine Hoffnung auf Gerechtigkeit.

In Fällen von Folter und anderen Misshandlungen war Straflosigkeit weiterhin vorherrschend. Ermittlungen zu jüngeren Vorwürfen verliefen schleppend und häufig erfolglos. Von Januar bis Dezember 2021 meldete die Generalstaatsanwaltschaft 79 neue Fälle mutmaßlicher Folter und 1.918 Fälle mutmaßlichen Amtsmissbrauchs durch Ordnungskräfte. Gegen 51 Personen wurde daraufhin wegen einschlägiger Straftaten Anklage erhoben.

Im Januar 2021 griff eine aufgebrachte Menschenmenge zwei junge Männer in der Region Schytomyr an, denen sie vorwarf, ein Auto gestohlen zu haben. Als ein Polizist vor Ort eintraf, gesellte er sich zu der Menge und tat so, als wolle er einen der jungen Männer mit seiner Pistole hinrichten. Im Juli klagte die Staatsanwaltschaft den Polizisten und drei weitere Personen wegen Folter an. Gegen einen weiteren Polizisten wurde Anklage wegen Falschaussage erhoben.

Im März 2021 teilte die Generalstaatsanwaltschaft mit, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) habe bis zu diesem Zeitpunkt in 115 Fällen zugunsten der Kläger_innen und gegen die Ukraine entschieden, indem er urteilte, dass Haftbedingungen den Tatbestand der Folter oder anderweitiger Misshandlung erfüllten. 71 dieser Fälle befanden sich noch unter der Aufsicht des Ministerkomitees des Europarats und waren von der Ukraine noch nicht umgesetzt worden. In 120 weiteren Fällen stand das Urteil noch aus.

Im Mai 2021 entschied der EGMR im Fall Debelyy und andere gegen die Ukraine, dass die Polizei in der Ukraine die drei Kläger Andrey Debelyy, Roman Korolev und Oleksandr Rafalsky unmenschlicher und erniedrigender Behandlung unterzogen habe.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Geschlechtsspezifische Gewalt und Diskriminierung, insbesondere gegen Frauen, sowie häusliche Gewalt waren 2021 nach wie vor weitverbreitet. Die Hilfsangebote für Überlebende sowie die rechtlichen und politischen Maßnahmen zur Bekämpfung häuslicher Gewalt waren trotz einiger Verbesserungen in den vergangenen Jahren immer noch unzureichend. Keine Fortschritte gab es bezüglich der Ratifizierung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention).

Von Januar bis Dezember 2021 leiteten die Behörden 2.432 strafrechtliche Ermittlungen wegen häuslicher Gewalt ein, erklärten 2.176 Personen zu Tatverdächtigen und brachten 2.136 Fälle vor Gericht. Von Januar bis Juni wurden gegen 54.890 Personen Verwaltungsverfahren wegen häuslicher Gewalt eingeleitet.

Im Juli 2021 trat ein neues Gesetz in Kraft, das die rechtlichen Bestimmungen beseitigte, die Militär- und Polizeiangehörige zuvor faktisch davor bewahrt hatten, wegen häuslicher Gewalt verwaltungs- oder strafrechtlich verfolgt zu werden. Das Gesetz verschärfte auch die Bestimmungen für Notfallschutzanordnungen. Außerdem verlängerte es die Verjährungsfrist für häusliche Gewalt als Ordnungswidrigkeit auf sechs Monate und führte neue Strafen ein, darunter einen Arbeitsdienst und eine Haftstrafe von bis zu zehn Tagen.

Eine Untersuchung der Vorwürfe von Oberleutnantin Valeria Sikal, der ersten ukrainischen Ex-Soldatin, die 2018 sexuelle Belästigung durch einen befehlshabenden Angehörigen der Streitkräfte gemeldet hatte, führte jedoch zu keinem Ergebnis. Ihr Fall wurde weiter verschleppt, indem man ihn an die Ermittlungsbehörde der Region Chmelnyzkyj übergab, die ihn nicht weiterverfolgte.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Ein im Mai 2021 ins Parlament eingebrachter Gesetzentwurf sah vor, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als spezifische Gründe für Hassverbrechen in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Doch gab es das gesamte Jahr über homosexuellenfeindliche Angriffe durch Gruppen, die Diskriminierung und Gewalt propagierten und nur in seltenen Fällen zur Rechenschaft gezogen wurden.

Im März 2021 beschmutzten vier Personen das Begegnungszentrum der NGO Sphere in Charkiw mit Dreck. Im August wurde die Fassade des Zentrums mit homosexuellenfeindlichen Graffiti beschmiert.

Allein im Mai 2021 kam es zu vier Angriffen dieser Art. Am 27. Mai schlug eine Gruppe von Männern ein Fenster in einem Gebäude ein, in dem die Kiewer Pride-Gruppe einen Film vorführte, und warf eine Fackel und einen Gaskanister hinein. Die Polizei leitete strafrechtliche Ermittlungen wegen “Rowdytums” ein, stufte den Vorfall jedoch nicht als Hassverbrechen ein.

Am 29. Mai 2021 griff eine aufgebrachte Menge das Begegnungszentrum der LGBTI-Gruppe Insight in Kiew an. Am selben Tag wurde in Odessa eine feministische Lesung der Insight-Leiterin Olena Shevchenko von einem Mob gestört und beendet. Andernorts in der Stadt bewarfen sieben maskierte, schwarz gekleidete Männer das Büro der LGBTI-Vereinigung LIGA mit Steinen und beschädigten eine ihrer Überwachungskameras. Die Polizei weigerte sich, strafrechtliche Ermittlungen zu diesen Vorfällen einzuleiten, und begann erst damit, nachdem Aktivist_innen wegen der Untätigkeit der Polizei Klage eingereicht hatten.

Die sechs Personen, die im Jahr 2018 Vitalina Koval angegriffen hatten, genossen weiterhin Straffreiheit. Sie hatten die Menschenrechtsverteidigerin bei einer Demonstration mit roter Farbe beworfen, die ihr die Augen verätzte. Im März 2021 entschied ein Gericht, dass die Anklage wegen “leichter Körperverletzung” gegen zwei Angreiferinnen verjährt sei, und stellte das entsprechende Verfahren ein. Eine parallele Untersuchung wegen eines Hassverbrechens (“Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz”) war anhängig, schien jedoch keine Fortschritte zu machen. Vier Männer, die an dem Angriff beteiligt waren, blieben ohne Anklage.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Medien waren im Allgemeinen pluralistisch und frei. Die Behörden gingen jedoch gezielt gegen einige wenige vor, die sie als prorussisch einstuften und denen der Inlandsgeheimdienst (Sluschba Bespeky Ukrajiny – SBU) vorwarf, einen “Informationskrieg” gegen die Ukraine zu führen.

Der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat, ein staatliches Beratungsgremium, verhängte sogenannte “persönliche Sanktionen” gegen den Abgeordneten Taras Kozak. Sie richteten sich gegen seine Firmen, darunter drei Fernsehsender, denen man die Sendelizenzen entzog. Die vom Präsidenten befürwortete Entscheidung rief Kritik hervor, weil sie ohne richterlichen Beschluss erfolgte, sich willkürlich gegen Medienunternehmen richtete und sich auf ein Gesetz berief, das Sanktionen gegen ausländische Unternehmen vorsah, das in diesem Fall aber gegen einen ukrainischen Staatsangehörigen und seine in der Ukraine ansässigen Unternehmen zur Anwendung kam.

Das haltlose strafrechtliche Verfahren gegen Vasily Muravitsky, einen ehemaligen gewaltlosen politischen Gefangenen, wurde fortgesetzt. Angesichts einer drohenden Inhaftierung und der Gefahr körperlicher Angriffe durch Gruppen, die Diskriminierung und Gewalt propagierten, sah er sich dazu gezwungen, die Ukraine zu verlassen.

Im November 2021 stellte der Eigentümer der unabhängigen Wochenzeitung Kyiv Post die Herausgabe der Zeitung mit sofortiger Wirkung ein. Die Redaktion gab bekannt, sie sei wegen ihrer unabhängigen Berichterstattung entlassen worden. In Kommentaren hieß es, die Entscheidung des Eigentümers sei auf Druck der Präsidialverwaltung erfolgt.

Angriffe auf Journalist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen bis hin zu Tötungen wurden nur schleppend untersucht und führten häufig zu keinem Ergebnis. Der viel beachtete Prozess gegen drei Personen, denen man vorwarf, im Juli 2016 den belarussisch-russisch-ukrainischen Journalisten Pavel Sheremet mit einer Autobombe getötet zu haben, ging weiter. Kommentator_innen und Journalist_innen äußerten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Ermittlungsergebnisse. Die Angeklagten bestritten die Vorwürfe und bestanden darauf, dass die Anklage politisch motiviert sei. Im Januar 2021 wurde Beweismaterial veröffentlicht, das nahelegte, dass die belarussischen Behörden die Tötung geplant hatten.

Am Morgen des 3. August 2021 fand man den bekannten belarussischen Exilanten Witali Schischow, der die Organisation Belarussisches Haus in der Ukraine leitete, erhängt in einem Park in Kiew auf. Er hatte zuvor im Kollegenkreis darüber geklagt, dass der belarussische Geheimdienst ihn verfolge und ihm Vergeltungsmaßnahmen angedroht habe. Die ukrainischen Behörden untersuchten seinen Tod, weil er ihnen verdächtig erschien, Ende 2021 lagen jedoch noch keine Ergebnisse vor.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Zwar konnte das Recht auf friedliche Versammlung im Allgemeinen uneingeschränkt ausgeübt werden, doch mussten sich LGBTI-Aktivist_innen und andere Personen, die im Visier gewalttätiger Gruppen standen, auf die Bereitschaft der Behörden verlassen, friedliche Demonstrierende während und nach ihren Kundgebungen zu schützen.

Am 8. März 2021 griffen gewalttätige Gegendemonstrierende die Teilnehmenden einer Demonstration zum Internationalen Frauentag in Kiew an. Unbekannte rempelten die Frauenrechtler_innen nach der Kundgebung an, beschimpften sie und versuchten ihnen ihre Plakate zu entreißen. Die Aktivist_innen zeigten dies bei der Polizei an, die sich jedoch weigerte, Ermittlungen einzuleiten, bis sich Rechtsbeistände einschalteten. Eine formelle Untersuchung war Ende 2021 noch im Gang.

Von Juli bis September 2021 fanden in Krywyj Rih, Odessa, Charkow, Kiew und weiteren Städten die alljährlichen Kundgebungen zur Unterstützung der Rechte von LGBTI+ statt. Sie verliefen friedlich und wurden von der Polizei wirksam geschützt, obwohl weiterhin eine Stimmung herrschte, in der Einschüchterungen und homosexuellenfeindliche Angriffe drohten und die Teilnehmenden Gefahr liefen, auf dem Rückweg von der Kundgebung angegriffen zu werden. Am 30. Juli 2021 hielten LGBTI-Aktivist_innen eine Pride-Veranstaltung vor dem Amtssitz des Präsidenten in Kiew ab.

Diskriminierung

Im Juli 2021 beschloss die Regierung eine nationale Strategie für den Zeitraum bis 2030, um die Diskriminierung von Rom_nja zu bekämpfen. Die anhaltende Coronapandemie wirkte sich jedoch besonders stark auf diese Bevölkerungsgruppe aus, da viele Rom_nja auf unregelmäßige Verdienstmöglichkeiten in informellen Bereichen der Wirtschaft angewiesen waren.

Frühere Angriffe auf Rom_nja, wie z. B. ein gewaltsamer Angriff und die Zerstörung einer informellen Siedlung im Naturschutzgebiet Lysa Hora in Kiew im Jahr 2018, wurden nicht gründlich untersucht. Die Generalstaatsanwaltschaft teilte Amnesty International im August 2021 mit, sie habe eine Entscheidung zur Einstellung der Ermittlungen aufgehoben. Doch gab es keine Angaben über weitere Fortschritte.

Recht auf Privatsphäre

Das Parlament nahm einen Gesetzentwurf zur Reform des Geheimdiensts SBU in erster Lesung an. Er betraf einige Probleme, die seit Langem für Kritik gesorgt hatten, und sah z. B. vor, die Ermittlungsfunktion des Geheimdiensts bis 2025 abzuschaffen. Die weitreichenden Befugnisse des SBU im Hinblick auf die Festnahme, Inhaftierung und Vernehmung von Personen sowie die Anwendung tödlicher Gewalt blieben jedoch bestehen, ohne dass neue und wirksamere Maßnahmen zur Gewährleistung der Rechenschaftspflicht eingeführt wurden.

Außerdem räumte der Gesetzentwurf dem SBU zusätzliche Überwachungsbefugnisse ein, einschließlich der Erlaubnis, öffentliche und private Kommunikation sowie Informationen von Einzelpersonen und Organisationen abzufangen und zu speichern. Im Gesetzentwurf waren keine rechtlichen Schutzmechanismen verankert, die einen Missbrauch verhindern und das Recht auf Privatsphäre gewährleisten würden. Darüber hinaus erteilte der Gesetzentwurf dem SBU die Befugnis, in bestimmten Fällen Websites zu blockieren, ohne dass hierfür eine richterliche Entscheidung erforderlich war.

Krim

Unterdrückung Andersdenkender

Die De-facto-Behörden auf der Halbinsel Krim gingen 2021 weiterhin hart gegen freie Meinungsäußerungen und jegliche Form von Kritik vor. Freie Medien wurden unterdrückt, und deren Mitarbeiter_innen waren schweren Repressalien ausgesetzt.

Am 10. März 2021 inhaftierte der russische Geheimdienst FSB den freien Journalisten Vladyslav Yesypenko und warf ihm Spionage und das Mitführen von Munition vor. Am 18. März strahlte ein staatlicher russischer Fernsehsender auf der Krim das “Eingeständnis” des Journalisten aus, er habe sein Filmmaterial an ukrainische Geheimdienste weitergegeben. Die Behörden verweigerten ihm 27 Tage lang – bis zu seiner Anhörung vor dem Untersuchungsgericht – den Zugang zu einem unabhängigen Rechtsbeistand. Bei der Anhörung erhob Vladyslav Yesypenko den Vorwurf, die Sicherheitskräfte hätten bei seiner Festnahme eine Granate in seinem Auto deponiert und sein gefilmtes “Geständnis” sei durch Folter und anderweitige Misshandlungen erpresst worden.

Nach Angaben von Menschenrechtsbeobachter_innen war der Zugang zu mindestens 27 Online-Medien auf der Krim vollständig gesperrt. Dies galt auch für Websites von Organisationen, die Russland willkürlich als “extremistisch” eingestuft und verboten hatte, darunter der Medschlis, eine von der krimtatarischen Volksversammlung gewählte Vertretung, sowie die Zeugen Jehovas. Jegliche Verbindung zu diesen Organisationen galt als Straftat.

Im April 2021 verurteilte ein Gericht den Aktivisten und Chefredakteur der auf Krimtatarisch erscheinenden Zeitung Qirim, Bekir Mamutov, wegen “Missbrauchs der Medienfreiheit” nach dem russischen Gesetz über Ordnungswidrigkeiten zu einer Geldstrafe. Er hatte den Bericht des UN-Generalsekretärs aus dem Jahr 2020 über die Menschenrechtslage auf der Krim veröffentlicht, in dem der Medschlis erwähnt wird, ohne ihn mit dem nach russischem Recht obligatorischen Hinweis zu versehen, dass diese Organisation in Russland als “extremistisch” gilt.

Auch andere noch auf der Krim verbliebene kritische Stimmen wurden Opfer von Verfolgung und Inhaftierung. Im September nahmen die Behörden den krimtatarischen Aktivisten Nariman Dschelal in Verbindung mit der mutmaßlichen Beschädigung einer Gasleitung willkürlich fest. Der einstige stellvertretende Vorsitzende des Medschlis war das ranghöchste noch auf der Krim verbliebene Mitglied des verbotenen Gremiums.

Die krimtatarischen Menschenrechtsverteidiger und gewaltlosen politischen Gefangenen Emir-Usein Kuku und Server Mustafayev sowie zahlreiche weitere Personen, die Opfer politisch motivierter Strafverfolgung durch die De-facto-Behörden auf der Krim geworden waren, befanden sich weiterhin in russischen Gefängnissen – oft unter unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen.

Verschwindenlassen

Das Schicksal und der Aufenthaltsort der Personen, die 2014 dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren, als Russland die Krim besetzte, waren weiterhin unbekannt. Kein einziger dieser Fälle wurde wirksam untersucht.

Donbass

In den Gebieten der Ostukraine, die unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen standen, die von Russland unterstützt wurden, gab es 2021 weiterhin Repressionen gegen Andersdenkende und Einschränkungen für die Zivilgesellschaft. Die UN-Beobachtermission für Menschenrechte in der Ukraine (UN Human Rights Monitoring Mission in Ukraine – HRMMU) teilte mit, notwendige Einrichtungen und Hilfsangebote für Überlebende häuslicher Gewalt würden fehlen. Zudem sei das persönliche Risiko der Aktivist_innen, die sich für die Rechte von Frauen einsetzten, sehr hoch, da ihnen Festnahme und Strafverfolgung drohten. Die HRMMU berichtete auch über willkürliche Festnahmen, Haft ohne Kontakt zur Außenwelt über längere Zeiträume hinweg und fortgesetzte rechtswidrige Inhaftierungen von Frauen und Männern durch die De-facto-Behörden. Haftzentren in Gebieten, die nicht unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung standen, waren für die Beobachtermission nicht zugänglich, trotz “weitverbreiteter und glaubwürdiger Vorwürfe über Folter und andere Misshandlungen in einer Reihe von Einrichtungen”. Nach Angaben der HRMMU wurden außerdem mindestens neun Zivilpersonen von Angehörigen des SBU willkürlich festgenommen.

Straflosigkeit

Zu zahlreichen in früheren Berichten aufgeführten Fällen von Verstößen beider Konfliktparteien gegen das humanitäre Völkerrecht gab es nach wie vor keine Ermittlungen.

In den Fällen von Menschen, die zwischen 2014 und 2016 in der Ostukraine vom SBU rechtswidrig inhaftiert oder gefoltert worden oder dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren, bestand nach wie vor keine Aussicht auf Gerechtigkeit, und die Existenz von Geheimgefängnissen wurde von offizieller Seite weiterhin geleugnet. Bei einer noch andauernden Untersuchung war bisher kein einziger mutmaßlicher Verantwortlicher ermittelt worden.

Recht auf Gesundheit

Der Mangel an unabhängigen Informationen und der fehlende Zugang zu den Gebieten, die unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen standen, erschwerten die Versuche, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Die ukrainische Regierung bot Besucher_innen, die aus Gebieten jenseits der Konfliktlinie kamen, kostenlose Impfungen an, u. a. in Impfzentren an den Grenzkontrollstellen. Die De-facto-Behörden schränkten jedoch die Einreise in Gebiete, die von der Regierung kontrolliert wurden, weiterhin willkürlich ein. Sie erlaubten und verwendeten nur Impfstoffe, die aus Russland stammten. Berichten zufolge reichten die entsprechenden Lieferungen aber bei Weitem nicht aus. Im September 2021 stieg die Zahl der Intensivpatient_innen offenbar so drastisch an, dass die lokalen medizinischen Einrichtungen, die zudem unter einem erheblichen Mangel an medizinischem Personal und Material litten, überfordert waren.

Veröffentlichungen von Amnesty International

Ukraine: Authorities must conduct effective investigation into suspicious death of prominent Belarusian exile, 3 August

Den Bericht auf Deutsch finden Sie hier.


Amnesty Report 2020 – Ukraine

Berichtszeitraum: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020

Das Recht auf Gesundheit wurde durch den eklatanten Mangel an persönlicher Schutzausrüstung gegen das Coronavirus beeinträchtigt. Angehörige von verstorbenem medizinischen Personal sahen sich beim Zugang zu Entschädigung mit bürokratischen Hürden konfrontiert. Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Folter und anderer Misshandlungen, insbesondere in Polizeigewahrsam. Sicherheitskräfte, die von 2014 bis 2016 für geheime Inhaftierungen und Folterungen in der Ostukraine verantwortlich waren, gingen auch weiterhin straffrei aus. Gegen Aktivist_innen und marginalisierte Gruppen gerichtete Angriffe von Gruppen, die Diskriminierung propagieren, setzten sich fort und wurden häufig nicht geahndet. Es gab regelmäßig Berichte über Einschüchterungen und Gewalt gegen Journalist_innen. Häusliche Gewalt war nach wie vor weit verbreitet, und der Zugang zu Hilfsangeboten durch strenge Corona-Maßnahmen beeinträchtigt. Beide Konfliktparteien in der Ostukraine verhängten Reiseverbote, die sich negativ auf die Ausübung sozioökonomischer Rechte der lokalen Bevölkerung auswirkten. Das harte Vorgehen gegen Menschenrechtsverteidiger_innen und Dissens auf der Krim wurde fortgesetzt.

 

Hintergrund

Trotz der Einführung von Corona-Maßnahmen im März 2020 konnte die Ausbreitung des Virus nicht effektiv verhindert werden. Weiter verschärft wurde diese Situation durch einen Mangel an persönlicher Schutzausrüstung und Tests, wodurch das Gesundheitssystem stark unter Druck geriet.

Die durch eine geringe Wahlbeteiligung gekennzeichneten Kommunalwahlen im Oktober 2020 zeigten sinkende Werte für die etablierten Parteien zugunsten von lokalen Parteien und politischen Aktivist_innen. An vielen Orten in der Ostukraine, darunter auch an einigen, die unter der Kontrolle der Regierung standen, konnte nicht gewählt werden. Als Grund dafür wurden Sicherheitsbedenken genannt.

Im Rahmen einer umfassenden Reform der Generalstaatsanwaltschaft wurden 55 % der Staatsanwält_innen nach einer Neubewertung entlassen. Nach der Entlassung des Leiters der Behörde geriet die Reform jedoch ins Stocken. Durch die Neubesetzung der Leitung der Generalstaatsanwaltschaft mit der Leiterin der staatlichen Ermittlungsbehörde, blieb diese wichtige Behörde des Strafjustizsystems ohne dauerhafte Führung.

Im September 2020 machte die Regierung die Menschenrechte ab 2022 zu einem Pflichtfach im Lehrplan für Schüler_innen im Alter von 11 bis 15 Jahren.

Der Waffenstillstand zwischen Regierungskräften und von Russland unterstützten bewaffneten Gruppen in der Ostukraine wurde 2020 mit Ausnahme einiger kleiner Gefechtsausbrüche im März und Mai weitgehend eingehalten. Das Gebiet der Krim befand sich nach wie vor unter russische

Recht auf Gesundheit

Das Gesundheitsministerium meldete einen erheblichen Mangel an persönlicher Schutzausrüstung für medizinisches Personal, der auch Ende 2020 noch bestand, sowie unzureichende Corona-Tests. Bis Mitte Dezember waren Berichten zufolge mehr als 51.731 Beschäftigte im Gesundheitswesen mit Covid-19 infiziert. Sie gehören zu insgesamt 1.055.047 bestätigten und 1.214.362 weiteren “Verdachtsfällen”. Dem Minister für Sozialpolitik zufolge waren bis zum 19. Dezember mehr als 300 im Gesundheitswesen Beschäftigte gestorben, allerdings wurden nur 53 dieser Todesfälle von einer Fachkommission als arbeitsbezogen eingestuft. Ihren Familien war eine staatliche Entschädigung versprochen worden, doch laut Medienberichten waren bis zum 12. November nur 21 von ihnen umfassend entschädigt worden, und 22 Familien hatten eine Teilentschädigung erhalten. Schuld daran waren bürokratische Hürden und die Notwendigkeit, zu beweisen, dass sich die Verstorbenen bei der Arbeit mit dem Coronavirus angesteckt hatten.

Folter und andere Misshandlung

Es gab auch weiterhin regelmäßig Berichte wegen Folter und anderer Misshandlungen, insbesondere von Häftlingen in Polizeigewahrsam. Den von der Generalstaatsanwaltschaft veröffentlichten Zahlen zufolge wurden im Jahr 2020 insgesamt 129 mutmaßliche Folterfälle registriert. In 59 Fällen wurde Anklage erhoben, und in 52 Fällen wurde das Verfahren eingestellt.

Am 23. Mai 2020 wurde ein Mann als Strafverdächtiger zusammen mit seiner Frau als Zeugin in die Polizeiwache des Bezirks Kaharlyk in der Region Kiew gebracht. Ihre Vorwürfe, sie seien gefoltert und die Frau wiederholt vergewaltigt worden, fanden ein großes Medienecho. Später im Mai wurden zwei Polizisten aus Kaharlyk von der Ermittlungsbehörde als Tatverdächtige in Untersuchungshaft genommen. Weitere mutmaßliche Überlebende von Folter in Kaharlyk meldeten sich. Fünf Polizisten aus Kaharlyk wurden daraufhin wegen rechtswidrigen Freiheitsentzugs und Folter angeklagt. Der Innenminister lehnte einen Rücktritt ab, versprach aber zusätzliche Maßnahmen zur Folterprävention, darunter bessere Registrierungs- und Überwachungssysteme.

Straflosigkeit

Für keines der Opfer von Verschwindenlassen, geheimer Haft sowie Folter und anderen Misshandlungen durch den Inlandsgeheimdienst der Ukraine (Sluschba bespeky Ukrajiny – SBU) in den Jahren 2014 bis 2016 gab es Gerechtigkeit, Wahrheit oder Wiedergutmachung, und auch die strafrechtliche Verfolgung der Tatverdächtigen blieb aus. In einer Erklärung teilte der neue Leiter des SBU im Juni 2020 mit, dass die Behörde aktuell keine Geheimgefängnisse unterhalte, äußerte sich jedoch nicht zu derartigen Praktiken in der Vergangenheit und dementierte jegliche Foltervorwürfe. Die seit vier Jahren dauernden Ermittlungen zu dieser Praxis wurden im Dezember 2019 von der Militärstaatsanwaltschaft an die Ermittlungsbehörde übergeben, hatten aber bis Ende 2020 keine greifbaren Ergebnisse erbracht.

Diskriminierung

Mitglieder von Gruppen, die Diskriminierung propagieren (in der Ukraine üblicherweise als rechtsextreme Gruppen bezeichnet), nahmen weiterhin zivilgesellschaftliche Aktivist_innen, politische Gegner_innen, Journalist_innen und Angehörige marginalisierter Gruppen mit Schikane, Einschüchterung und Gewalt ins Visier – oft völlig ungestraft.

Am 12. Juni 2020 wurden Angehörige der NGO Feminist Workshop in der Hauptstadt Kiew bei dem Versuch, Plakate mit diskriminierenden Botschaften abzunehmen, von etwa 15 Männern einer rechtsextremen Gruppe angegriffen. Die Angreifer schubsten und beschimpften die Aktivistinnen, schlugen einer von ihnen ins Gesicht und drohten mit weiterer Gewalt. Ein Augenzeuge rief die Polizei, die jedoch erst nach einer Dreiviertelstunde eintraf. Die Aktivistinnen erstatteten Anzeige bei der Polizei. Es wurde eine Untersuchung eingeleitet, aber bis zum Ende des Jahres waren keine Fortschritte gemeldet worden.

Am 30. August konnten LGBTI-Aktivist_innen in Odessa keine solidarische Menschenkette am gewünschten Ort bilden, weil dieser von Gegendemonstrierenden besetzt war. Die Polizei bestand darauf, die LGBTI-Aktivist_innen an einen anderen Ort zu schicken, bot Berichten zufolge jedoch keinen Schutz an, als die Gegendemonstrierenden ihnen folgten und sie angriffen. Die Aktivist_innen wurden mit Eiern beworfen, mit Tränengas besprüht und angegriffen. Mehrere erlitten Verbrennungen und andere Verletzungen. Die Polizei nahm 16 mutmaßliche Angreifer_innen fest.

Rom_nja

Angehörige der Rom_nja wurden auch 2020 weiterhin diskriminiert. Ihr Lebensunterhalt war einmal mehr beeinträchtigt, da die Verdienstmöglichkeiten in der informellen Wirtschaft, auf die viele von ihnen angewiesen sind, pandemiebedingt stark zurückgegangen waren. Wer keine offiziellen Ausweisdokumente besaß, hatte keinen Zugang zu Sozialleistungen, Rentenzahlungen oder medizinischer Versorgung.

Bei den Ermittlungen zu dem gewalttätigen Angriff auf eine informelle Rom_nja-Siedlung im Naturreservat Lysa Hora in Kiew im April 2018 wurden keine Fortschritte gemeldet, obwohl der Angriff in der Öffentlichkeit stattgefunden hatte und die mutmaßlichen Täter_innen anhand von frei zugänglichem Videomaterial des Vorfalls frühzeitig identifiziert werden konnten.

Eine Rom_nja-Familie, die in der Gegend des Lysa Hora ihr Lager hatte, berichtete, sie sei am 29. April von zwei Männern gewaltsam angegriffen worden, die sich am frühen Morgen Eingang in ihr provisorisches Zelt verschafften. Sie versprühten Pfefferspray im Zelt und schlugen den jungen Rom mit einem Holzbrett. Als seine Frau sie bat, aufzuhören, und ihnen sagte, sie sei schwanger, beschimpften sie sie und schrien: “Jemanden wie dich sollte man nur vergewaltigen”. Das Zelt wurde zusammen mit dem gesamten Besitz und allen Dokumenten der Familie niedergebrannt. Am 2. Mai nahm die Polizei strafrechtliche Ermittlungen auf, doch lagen Ende 2020 noch keine Ergebnisse vor.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Medien waren nach wie vor pluralistisch und weitgehend frei, obwohl regelmäßig über Schikanen im Zusammenhang mit ihrer Redaktionspolitik sowie über Einschüchterungen und Gewalt gegen Journalist_innen berichtet wurde.

Im Juli 2020 wurde die Journalistin Katerina Sergatskova, Mitbegründerin der Nachrichtenwebsite Zaborona, Opfer einer Verleumdungskampagne durch einen beliebten Blogger, der ihre Arbeit kritisierte und neben Details aus ihrem Privatleben ein Foto ihres kleinen Sohnes veröffentlichte. In den Kommentaren seiner Leserschaft fanden sich auch die Privatadresse von Katerina Sergatskova und weitere Fotos. Außerdem erhielt sie Morddrohungen und beleidigende Nachrichten. Katerina Sergatskova meldete diese der Polizei, die jedoch erst dann aktiv wurde, als sie ein Gerichtsverfahren gewann, in dem sie der Polizei Untätigkeit vorgeworfen hatte. Zwischenzeitlich hatte sie Kiew aus Sicherheitsgründen verlassen.

Im September 2020 begann das Verfahren gegen einen Mann und zwei Frauen, die der direkten Beteiligung an der Ermordung des Journalisten Pavel Sheremet im Juli 2016 beschuldigt wurden. Alle drei plädierten auf nicht schuldig. Unterdessen wurde in einem separaten Verfahren untersucht, wer den Mord in Auftrag gegeben hatte, ohne dass bis zum Jahresende jedoch ein Ergebnis bekannt wurde.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Häusliche Gewalt

Häusliche Gewalt war nach wie vor weit verbreitet, wurde selten gemeldet und häufig nicht wirksam bekämpft. Rechtliche und institutionelle Initiativen der letzten Jahre, die häusliche Gewalt bekämpfen sollten, wurden oft unzureichend oder gar nicht umgesetzt. Die Polizei zögerte bei der Ausstellung von Notfallschutzanordnungen und war nicht willens oder in der Lage, diese durchzusetzen. Polizei- und Militärangehörige waren auch weiterhin von Verwaltungsverfahren vor Zivilgerichten ausgenommen. In der Praxis kann dies bedeuten, dass sie auch einer strafrechtlichen Verfolgung wegen häuslicher Gewalt entgehen, da das Gesetz oft so ausgelegt wird, dass erst zwei Verwaltungsstrafen verhängt worden sein müssen, um die für eine Strafverfolgung erforderliche Schwelle des “systematischen” Missbrauchs zu erreichen.

Der Konflikt in der Ostukraine hat derartige systemische Mängel weiter verschlimmert und die institutionellen Schutzsysteme ausgehöhlt. Eine Frau aus der Region Donezk hatte der Polizei 2019 mindestens fünf Fälle von Gewalt durch ihren Ehemann, einen Militärangehörigen, gemeldet, doch versagte die Polizei bei der Umsetzung administrativer Maßnahmen. 2020 wurde ein Strafverfahren gegen den Ehemann eingeleitet und eine einstweilige Verfügung erlassen, doch wurden seitens seiner Vorgesetzten während der Ermittlungen keine disziplinarischen oder anderen Maßnahmen ergriffen.

Im Mai 2020 wurde Präsident Wolodymyr Selenskyj eine von 25.000 Personen unterzeichnete Petition vorgelegt, in der die Ratifizierung der Istanbul-Konvention gefordert wurde, einem internationalen Abkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Im September unterzeichnete der Präsident einen Erlass “über dringende Maßnahmen zur Vorbeugung und Bekämpfung von häuslicher Gewalt”, der die Regierung verpflichtete, ein bis 2025 andauerndes staatliches Programm zu entwickeln, das Maßnahmen zur Verbesserung der behördenübergreifenden Koordination, weitere Gesetzesänderungen und die Einführung von Rehabilitationsprogrammen für Täter_innen beinhaltet. Die Istanbul-Konvention fand in dem Erlass jedoch keine Erwähnung, und es wurden im Laufe des Jahres auch keine Schritte zu ihrer Ratifizierung unternommen.

Der Zugang zu Hilfsangeboten für Überlebende häuslicher Gewalt wurde durch die strengen Corona-Schutzmaßnahmen 2020 beeinträchtigt. Die staatlich finanzierten Büros für kostenlose Rechtshilfe gingen dazu über, nur noch Fernberatungen für Überlebende anzubieten. Dies schloss die Hilfe für Überlebende aus, die weiter mit der missbrauchenden Person zusammenlebten und nicht frei über ihre Situation sprechen konnten. Der Zugang zu Frauenhäusern wurde dadurch zusätzlich erschwert, dass sich Überlebende zunächst einer medizinischen Untersuchung unterziehen mussten. Überlebenden aus Orten, an denen es keine Frauenhäuser gab, war es nicht möglich, sich anderswohin zu begeben, weil alle öffentlichen Verkehrsmittel, einschließlich Busse und Züge, von März bis Mai 2020 ausgesetzt wurden.

Straflosigkeit

Die Untersuchung der Vorwürfe von Oberleutnantin Valeria Sikal, der ersten ukrainischen Ex-Soldatin, die 2018 sexuelle Belästigung durch einen befehlshabenden Angehörigen der Streitkräfte gemeldet hatte, wurde offensichtlich behindert. Der Militärstaatsanwalt der Garnison Rivne gab den Fall wiederholt an die Ermittlungsbehörde zurück, um angebliche Unregelmäßigkeiten auch bei bereits durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen zu korrigieren. Der Fall kam bis Ende 202 weder vor Gericht noch wurde der Militärangehörige angeklagt.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Am 30. April 2020 wurde eine 19-jährige Transgender-Person aus Zhytomyr von einer Gruppe Jugendlicher schwer verprügelt, sexuell missbraucht und ausgeraubt. Die Jugendlichen versuchten dann, sie als Geisel zu nehmen und Geld von ihrem Vater zu fordern, als die Polizei gerufen wurde. Es wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet, ohne dass die Polizei jedoch dem transfeindlichen Hassmotiv der Tat Rechnung getragen hätte. In der Zwischenzeit wurden keine Maßnahmen gegen die Verdächtigen ergriffen.

Im Mai wurden drei alternative Gesetzesentwürfe im Parlament eingebracht, um sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als spezifische Gründe für Hassverbrechen in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Diese Initiativen stießen bei religiösen und anderen Gruppen auf Kritik, und keine wurde zur Abstimmung vorgelegt.

LGBTI, die Opfer von Hassverbrechen wurden, zögerten, diese anzuzeigen, aus mangelndem Vertrauen in die Polizei und aus Angst vor weiteren Repressalien. Wenn sie zur Anzeige kamen, wurden solche Straftaten selten, wenn überhaupt, effektiv untersucht. Meist wurden sie nicht als vorurteilsbedingte Straftaten eingestuft und die Täter_innen wurden nicht oder nur wegen geringfügiger Vergehen unter Anklage gestellt.

Recht auf Freizügigkeit

Beide Konfliktparteien verhängten Reisebeschränkungen für das Überqueren der Kontaktlinie, wobei es sich häufig um wechselseitige Vergeltungsmaßnahmen zu handeln schien. Der UN-Beobachtermission für Menschenrechte in der Ukraine zufolge war die Zahl der Übergänge in beide Richtungen bis Oktober 2020 von einem monatlichen Durchschnitt von einer Million auf Zehntausende gesunken. Familien wurden getrennt, zahlreiche Existenzen gefährdet. Ältere Menschen, die Renten aus unter Regierungskontrolle stehenden Gebieten der Ukraine beziehen sollten; Menschen, die eine umfassende Gesundheitsversorgung benötigten, darunter HIV-positive Menschen; sowie andere marginalisierte Gruppen waren am stärksten vom Reiseverbot in die von der Regierung kontrollierten Gebieten betroffen.

Im Juni 2020 wurden die Reisebeschränkungen gelockert. Die von den De-facto-Behörden in Donezk verhängten Beschränkungen schienen willkürlich zu erfolgen. Sie beschränkten Reisen auf bestimmte Tage, ohne dafür eine Erklärung zu liefern, und machten diese von einem vorherigen Antrag auf Genehmigung abhängig, der in zahlreichen berichteten Fällen ebenfalls ohne Begründung abgelehnt wurde.

Krim

Unterdrückung Andersdenkender

Die De-facto-Behörden auf der Halbinsel Krim gingen 2021 weiterhin hart gegen freie Meinungsäußerungen und jegliche Form von Kritik vor. Freie Medien wurden unterdrückt, und deren Mitarbeiter_innen waren schweren Repressalien ausgesetzt.

Am 10. März 2021 inhaftierte der russische Geheimdienst FSB den freien Journalisten Vladyslav Yesypenko und warf ihm Spionage und das Mitführen von Munition vor. Am 18. März strahlte ein staatlicher russischer Fernsehsender auf der Krim das “Eingeständnis” des Journalisten aus, er habe sein Filmmaterial an ukrainische Geheimdienste weitergegeben. Die Behörden verweigerten ihm 27 Tage lang – bis zu seiner Anhörung vor dem Untersuchungsgericht – den Zugang zu einem unabhängigen Rechtsbeistand. Bei der Anhörung erhob Vladyslav Yesypenko den Vorwurf, die Sicherheitskräfte hätten bei seiner Festnahme eine Granate in seinem Auto deponiert und sein gefilmtes “Geständnis” sei durch Folter und anderweitige Misshandlungen erpresst worden.

Nach Angaben von Menschenrechtsbeobachter_innen war der Zugang zu mindestens 27 Online-Medien auf der Krim vollständig gesperrt. Dies galt auch für Websites von Organisationen, die Russland willkürlich als “extremistisch” eingestuft und verboten hatte, darunter der Medschlis, eine von der krimtatarischen Volksversammlung gewählte Vertretung, sowie die Zeugen Jehovas. Jegliche Verbindung zu diesen Organisationen galt als Straftat.

Im April 2021 verurteilte ein Gericht den Aktivisten und Chefredakteur der auf Krimtatarisch erscheinenden Zeitung Qirim, Bekir Mamutov, wegen “Missbrauchs der Medienfreiheit” nach dem russischen Gesetz über Ordnungswidrigkeiten zu einer Geldstrafe. Er hatte den Bericht des UN-Generalsekretärs aus dem Jahr 2020 über die Menschenrechtslage auf der Krim veröffentlicht, in dem der Medschlis erwähnt wird, ohne ihn mit dem nach russischem Recht obligatorischen Hinweis zu versehen, dass diese Organisation in Russland als “extremistisch” gilt.

Auch andere noch auf der Krim verbliebene kritische Stimmen wurden Opfer von Verfolgung und Inhaftierung. Im September nahmen die Behörden den krimtatarischen Aktivisten Nariman Dschelal in Verbindung mit der mutmaßlichen Beschädigung einer Gasleitung willkürlich fest. Der einstige stellvertretende Vorsitzende des Medschlis war das ranghöchste noch auf der Krim verbliebene Mitglied des verbotenen Gremiums.

Die krimtatarischen Menschenrechtsverteidiger und gewaltlosen politischen Gefangenen Emir-Usein Kuku und Server Mustafayev sowie zahlreiche weitere Personen, die Opfer politisch motivierter Strafverfolgung durch die De-facto-Behörden auf der Krim geworden waren, befanden sich weiterhin in russischen Gefängnissen – oft unter unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen.

Verschwindenlassen

Das Schicksal und der Aufenthaltsort der Personen, die 2014 dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren, als Russland die Krim besetzte, waren weiterhin unbekannt. Kein einziger dieser Fälle wurde wirksam untersucht.

Donbass

In den Gebieten der Ostukraine, die unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen standen, die von Russland unterstützt wurden, gab es 2021 weiterhin Repressionen gegen Andersdenkende und Einschränkungen für die Zivilgesellschaft. Die UN-Beobachtermission für Menschenrechte in der Ukraine (UN Human Rights Monitoring Mission in Ukraine – HRMMU) teilte mit, notwendige Einrichtungen und Hilfsangebote für Überlebende häuslicher Gewalt würden fehlen. Zudem sei das persönliche Risiko der Aktivist_innen, die sich für die Rechte von Frauen einsetzten, sehr hoch, da ihnen Festnahme und Strafverfolgung drohten. Die HRMMU berichtete auch über willkürliche Festnahmen, Haft ohne Kontakt zur Außenwelt über längere Zeiträume hinweg und fortgesetzte rechtswidrige Inhaftierungen von Frauen und Männern durch die De-facto-Behörden. Haftzentren in Gebieten, die nicht unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung standen, waren für die Beobachtermission nicht zugänglich, trotz “weitverbreiteter und glaubwürdiger Vorwürfe über Folter und andere Misshandlungen in einer Reihe von Einrichtungen”. Nach Angaben der HRMMU wurden außerdem mindestens neun Zivilpersonen von Angehörigen des SBU willkürlich festgenommen.

Straflosigkeit

Zu zahlreichen in früheren Berichten aufgeführten Fällen von Verstößen beider Konfliktparteien gegen das humanitäre Völkerrecht gab es nach wie vor keine Ermittlungen.

In den Fällen von Menschen, die zwischen 2014 und 2016 in der Ostukraine vom SBU rechtswidrig inhaftiert oder gefoltert worden oder dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren, bestand nach wie vor keine Aussicht auf Gerechtigkeit, und die Existenz von Geheimgefängnissen wurde von offizieller Seite weiterhin geleugnet. Bei einer noch andauernden Untersuchung war bisher kein einziger mutmaßlicher Verantwortlicher ermittelt worden.

Recht auf Gesundheit

Der Mangel an unabhängigen Informationen und der fehlende Zugang zu den Gebieten, die unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen standen, erschwerten die Versuche, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Die ukrainische Regierung bot Besucher_innen, die aus Gebieten jenseits der Konfliktlinie kamen, kostenlose Impfungen an, u. a. in Impfzentren an den Grenzkontrollstellen. Die De-facto-Behörden schränkten jedoch die Einreise in Gebiete, die von der Regierung kontrolliert wurden, weiterhin willkürlich ein. Sie erlaubten und verwendeten nur Impfstoffe, die aus Russland stammten. Berichten zufolge reichten die entsprechenden Lieferungen aber bei Weitem nicht aus. Im September 2021 stieg die Zahl der Intensivpatient_innen offenbar so drastisch an, dass die lokalen medizinischen Einrichtungen, die zudem unter einem erheblichen Mangel an medizinischem Personal und Material litten, überfordert waren.

Veröffentlichung von Amnesty International

Ukraine: Authorities must conduct effective investigation into suspicious death of prominent Belarusian exile, 3 August


Amnesty Report 2018 – Ukraine

Eine Untersuchung zu den Geheimgefängnissen, die der Inlandsgeheimdienst der Ukraine (Sluschba bespeky Ukrajiny – SBU) mutmaßlich betrieb, machte keinerlei Fortschritte. Angehörige der Strafverfolgungsbehörden wandten weiterhin Folter und andere Misshandlungen an. Die ukrainischen Behörden erhöhten den Druck auf Journalisten und Aktivisten, die Korruption anprangerten, sowie auf andere Kritiker und unabhängige NGOs. Die Behörden leiteten strafrechtliche Ermittlungen ein und verabschiedeten Gesetze, die u. a. die Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit einschränkten. Die De-facto-Behörden in den von Separatisten kontrollierten Gebieten gingen nach wie vor mit rechtswidrigen Festnahmen und Inhaftierungen gegen Kritiker vor. Im November 2017 ordnete das oberste De-facto-Gericht in Donezk die Hinrichtung eines Mannes an. Auf der von Russland besetzten Halbinsel Krim wurden Kritiker eingeschüchtert, schikaniert und strafrechtlich verfolgt. Die Pride-Parade von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI) in der Hauptstadt Kiew wurde von der Polizei wirksam geschützt. Es kam im ganzen Land zu vermehrten Angriffen auf LGBTI-Veranstaltungen. Die Regierung ging nicht entschieden gegen sexualisierte und häusliche Gewalt vor. Die Behörden kündigten an, die Ukraine werde Waffenlieferungen an den Südsudan bis auf weiteres einstellen.

Hintergrund

Die soziale Unzufriedenheit nahm 2017 weiter zu. Wachsende wirtschaftliche Probleme, das langsame Reformtempo und weitverbreitete Korruption sorgten regelmäßig für Proteste in Kiew, bei denen es teilweise zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. An einigen Protesten beteiligten sich Hunderte von Menschen. Im April 2017 stellte die Weltbank fest, dass die ukrainische Wirtschaft nicht weiter schrumpfe. Sie prognostizierte für 2017 ein Wachstum von 2 % und drängte auf weitere Reformen. Am 14. Juni hob die EU die Visumpflicht für ukrainische Staatsangehörige auf. Die Regierung verabschiedete umfassende Reformen in den Bereichen Gesundheit und Bildung, dabei wurden erstmals auch die Menschenrechte in die Lehrpläne der Schulen aufgenommen.

Im Osten der Ukraine gingen die Gefechte zwischen Separatisten und ukrainischen Regierungskräften trotz des Waffenstillstandsabkommens von 2015 weiter. Die Zahl der Opfer des Konflikts erhöhte sich 2017. Nach Angaben der UN wurden von Mitte April 2014 bis Mitte August 2017 insgesamt 10225 Personen getötet, darunter 2505 Zivilpersonen. Am 27. Dezember kamen im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zwischen der Regierung und den Separatisten insgesamt 380 Personen frei.

Die UN-Beobachtermission für Menschenrechte in der Ukraine stellte in ihrem Bericht vom September 2017 fest, dass sich die zunehmende Armut und Arbeitslosigkeit in Verbindung mit extrem hohen Lebensmittelpreisen auf das Leben der 3,8 Mio. Menschen in den Konfliktgebieten auswirke. Hinzu kämen die täglichen Entbehrungen aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen und der damit einhergehenden Politik aller Seiten. In den Vorjahren eingeführte Gesetze sorgten für eine weitere Einschränkung des Zugangs zu sozialen Rechten und Altersrenten für die Menschen in den Konfliktgebieten.

Die Krim war weiterhin von Russland besetzt. Die russischen Behörden verwehrten internationalen Menschenrechtsbeobachtern nach wie vor den Zugang zu der Halbinsel.

Folter und andere Misshandlungen

Angehörige der Strafverfolgungsbehörden setzten weiterhin Folter und andere Misshandlungen ein und verübten weitere Menschenrechtsverletzungen. Verletzungen des humanitären Völkerrechts wurden nach wie vor nicht geahndet, das galt auch für Verbrechen, die in der Vergangenheit begangen worden waren.

Am 15. August 2017 nahm der Geheimdienst die in Russland lebende Ukrainerin Daria Mastikasheva fest, als sie ihre Mutter in der Ukraine besuchte, und hielt sie zwei Tage lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft. Ihr wurden Hochverrat und illegaler Waffenbesitz vorgeworfen. Fotos, die ihr Anwalt außerhalb des Gerichts von ihr machte, deuteten darauf hin, dass sie von SBU-Angehörigen geschlagen und gefoltert worden war. Ihr Anwalt berichtete auch, man habe Mastikasheva gedroht, gegen ihre Mutter und ihren Sohn vorzugehen, bis sie einwilligte, eine sich selbst belastende Erklärung vorzulesen, die aufgezeichnet wurde. Sie befand sich Ende 2017 noch immer in Haft und wartete auf ihr Verfahren.

Am 16. November 2017 wurde endlich der Leiter der neuen staatlichen Ermittlungsbehörde ernannt, die geschaffen worden war, um unabhängig von anderen Strafverfolgungsbehörden zu ermitteln. Ende des Jahres fehlte es der Behörde jedoch noch an Personal, und sie konnte ihre Arbeit noch nicht aufnehmen.

Sexualisierte Gewalt

In einem Bericht vom Februar 2017 dokumentierte die UN-Beobachtermission für Menschenrechte in der Ukraine Fälle von sexualisierter Gewalt im Zusammenhang mit dem Konflikt. Die Beobachtermission warf der Justiz vor, die Überlebenden im Stich zu lassen, und wies darauf hin, dass es an angemessenen Betreuungs- und Beratungsangeboten mangele. In der Mehrzahl der dokumentierten Fälle wurden Männer und Frauen, die von Regierungskräften oder bewaffneten Gruppen inhaftiert worden waren, Opfer sexualisierter Gewalt.

Inhaftierungen

Die Ermittlungen des Obersten Militärstaatsanwalts zu den Vorwürfen geheimer Inhaftierungen durch den SBU in der Ostukraine waren wirkungslos. Die 2016 von internationalen NGOs veröffentlichten Beweise, die diese Praxis belegten, wurden von den Behörden weitgehend ignoriert.

Inhaftierungen von Zivilpersonen im Konfliktgebiet

Am 27. April 2017 veröffentlichte der UN-Unterausschuss zur Verhütung von Folter einen Bericht über seinen Besuch der Ukraine im Jahr 2016. Darin hieß es, der SBU habe das Mandat des Unterausschusses behindert, indem er den Zugang zu einigen seiner Einrichtungen verweigert habe. Der Unterausschuss habe seinen Besuch im Mai deshalb vorzeitig abbrechen müssen. Als der Unterausschuss seinen Besuch im September fortsetzte, gewann er „den eindeutigen Eindruck, dass einige Räumlichkeiten geräumt worden waren, um nahezulegen, dass sie nicht für Inhaftierungszwecke genutzt worden waren”. Die fraglichen Einrichtungen, insbesondere in Charkiw, sollen als geheime Gefängnisse genutzt worden sein; die Inhaftierten waren vermutlich in eine andere nicht offizielle Einrichtung verlegt worden, bevor man den Besuchern den Zugang gestattete. In den selbsternannten und von Russland unterstützten Volksrepubliken Donezk und Lugansk in der Ostukraine wurde dem Unterausschuss der Zugang zu Hafteinrichtungen verweigert.

Die De-facto-Behörden in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk gingen weiterhin mit Festnahmen und Inhaftierungen gegen Kritiker und andere Personen vor, denen sie vorwarfen, die Ukraine zu unterstützen. Am 3. Mai 2017 verurteilte ein De-facto-Gericht in Donezk den bekannten Wissenschaftler Ihor Kozlovski zu zwei Jahren und acht Monaten Gefängnis. Grundlage war eine konstruierte Anklage, die ihm Waffenbesitz vorwarf. Ihor Kozlovsky befand sich seit Januar 2016 in Haft und kam am 27. Dezember 2017 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei.

Am 31. Januar 2017 wurden die russischen Aktivisten und Performancekünstler Seroe Fioletovoe und Viktoriya Miroshnichenko zwei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten, nachdem sie von der Volksrepublik Donezk kontrolliertes Territorium betreten hatten. Nach einer internationalen Kampagne, die ihre Freilassung forderte, wurden sie am 14. Februar von Angehörigen des De-facto-Staatssicherheitsministeriums (MGB) an die russische Grenze eskortiert und freigelassen.

Am 2. Juni 2017 wurde der freie Journalist Stanislav Aseev, der anonym aus der Volksrepublik Donezk berichtet hatte, in Donezk Opfer des Verschwindenlassens. Die De-Facto-Behörden bestritten wochenlang, ihn in ihrem Gewahrsam zu haben. Am 16. Juli erzählte ein MGB-Mitarbeiter der Mutter von Stanislav Aseev, ihr Sohn befinde sich wegen Spionagevorwürfen im Gewahrsam des MGB. Ende 2017 befand er sich noch immer in Haft, und die Ermittlungen dauerten an.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Zivilgesellschaftlich engagierte Personen und Mitglieder von NGOs wurden regelmäßig schikaniert und Opfer von Gewalt. Dies betraf insbesondere jene, die Korruption anprangerten. Es wurde weithin angenommen, dass Angehörige der Behörden und in manchen Fällen Sicherheitskräfte die treibenden Kräfte hinter diesen Vorfällen waren. Eine wirksame Untersuchung fand in der Regel nicht statt.

Ein im März 2017 verabschiedetes Gesetz verpflichtete Aktivisten, die Korruption anprangerten, darunter auch Mitglieder von NGOs und Journalisten, zur Abgabe jährlicher Einkommenserklärungen wie bei Staatsbediensteten, um keine strafrechtlichen Vorwürfe und Haftstrafen zu riskieren.

Im Juli 2017 legte die Präsidialverwaltung zwei Gesetzentwürfe vor, die vorsahen, NGOs, deren Jahresbudget das 300-fache des sogenannten Existenzminimums überschritt, zur Erstellung öffentlicher Finanzberichte zu verpflichten, die aufwendig waren und eine starke Einmischung darstellten. Das gesetzlich festgelegte und regelmäßig überprüfte Existenzminimum lag Ende 2017 bei 1700 Griwna (etwa 50 Euro). NGOs sollten außerdem zur Offenlegung aller Zahlungen an Mitglieder, Personal und Berater verpflichtet werden. Bei Verstößen drohten schwere Strafen, darunter der Verlust des Gemeinnützigkeitsstatus und das Einfrieren von Konten. Die beiden Gesetzentwürfe lagen Ende 2017 dem Parlament zur Prüfung vor.

Am 11. Oktober durchsuchte die Steuerpolizei die Büros der NGO Patients of Ukraine und des Ukrainischen Netzwerks von Menschen mit HIV/AIDS. Beide NGOs sind dafür bekannt, dass sie fragwürdige Praktiken im Beschaffungswesen des staatlichen Gesundheitssystems aufdecken. Die Behörden warfen den NGOs vor, sie hätten internationale Gelder zweckentfremdet, obwohl sich die NGOs einer unabhängigen Buchprüfung unterzogen hatten. Den Gerichtsakten zufolge wurden sie außerdem beschuldigt, durch die Finanzierung von Patientenorganisationen auf der Krim „Terrorismus zu unterstützen“.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Ermittlungen zu den Tötungen der Journalisten Oles Buzina 2015 und Pavel Sheremet 2016 verliefen ergebnislos. Die Behörden versuchten weiterhin, das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken, indem sie aufgrund konstruierter Vorwürfe Strafverfahren gegen Journalisten einleiteten, die ausbleibende Reformen und die Ostukrainepolitik der Regierung kritisierten. Im Juni 2017 hob der Oberste Sondergerichtshof der Ukraine die Entscheidung eines Berufungsgerichts vom Juli 2016 auf, das den Journalisten und gewaltlosen politischen Gefangenen Ruslan Kotsaba freigesprochen hatte. Er war wegen Hochverrat und Behinderung der ukrainischen Streitkräfte angeklagt worden, nachdem er den Konflikt in der Ostukraine kritisiert hatte.

Behörden durchsuchten im Juni 2017 im Zuge von Ermittlungen wegen mutmaßlichen Verrats von Staatsgeheimnissen die Büros der Online-Zeitung Strana.ua. Im August folgten Hausdurchsuchungen beim Chefredakteur Ihor Guzhva und bei einem weiteren Journalisten. Im Juli wurden die Räume des Medienunternehmens Vesti im Rahmen von Betrugsermittlungen durchsucht. Beide Medien waren bekannt für ihre kritische Berichterstattung über die ukrainischen Behörden und deren Vorgehen in der Konfliktregion Donbass.

Im August verwies der SBU in drei unterschiedlichen Fällen insgesamt vier internationale Journalisten wegen „Schädigung der nationalen Interessen der Ukraine“ des Landes. Gegen die zwei spanischen und zwei russischen Journalisten wurde außerdem eine dreijährige Einreisesperre verhängt. Die Sprecherin des Geheimdienstes, Olena Gitlyanska, warf der am 30. August ausgewiesenen russischen Journalistin Anna Kurbatova vor, sie habe Material produziert, das „dem nationalen Interesse der Ukraine schade“, und kündigte an, dass jede Person ausgewiesen werde, „die es wagt, die Ukraine zu diskreditieren“. Im Oktober hob der SBU das Einreiseverbot für die spanischen Journalisten auf.

Im August nahm der SBU den freien Journalisten Vasily Muravitsky aus Zhytomyr fest, der für mehrere russische Medien arbeitete. Der SBU beschuldigte ihn, auf Geheiß Moskaus „Ukraine-feindliches“ Material erstellt und in Umlauf gebracht zu haben. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft. Ende 2017 war er noch in Untersuchungshaft.

Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche

Die Pride-Parade am 18. Juni 2017 in Kiew war der bislang größte Marsch für die Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI). Tausende Menschen nahmen daran teil, es gab aber auch mehrere Dutzend Gegendemonstranten. Die Polizei schirmte die Gegendemonstranten wirkungsvoll von den Paradeteilnehmern ab, so dass es während der Demonstration zu keinen Zwischenfällen kam. Nach dem Marsch wurden mehrere Paradeteilnehmer von Mitgliedern rechtsextremer Gruppen angegriffen und geschlagen. Insgesamt nahm die Anzahl gewaltsamer Angriffe auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche 2017 zu. In Saporischja verprügelte eine Gruppe rechtsgerichteter Protestierender im September mehrere Personen, die an einem LGBTI-Festival teilnahmen.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Das Parlament hatte das 2011 unterzeichnete Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) auch 2017 noch nicht ratifiziert.

Krim

Auf der Halbinsel Krim waren die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit 2017 weiterhin extrem eingeschränkt. Nach wie vor standen vor allem ethnische Krimtataren im Visier der Behörden. Das willkürliche Verbot des Medschlis, eine von der krimtatarischen Volksversammlung gewählte Vertretung, blieb bestehen. Im Zuge einer Kampagne zur Einschüchterung von Personen, die die Besatzung der Krim kritisierten, durchsuchte der russische Inlandsgeheimdienst Dutzende Häuser von Krimtataren – vorgeblich auf der Suche nach illegalen Waffen, Drogen und „extremistischer“ Literatur. Die wenigen Rechtsbeistände, die bereit waren, die Verteidigung von Kritikern auf der Krim zu übernehmen, wurden von den russischen Behörden schikaniert.

Am 26. Januar 2017 wurde der Anwalt Emil Kurbedinov festgenommen und von einem De-facto-Gericht in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, zu zehn Tagen Verwaltungshaft verurteilt. Man warf ihm vor, er habe mit einem Beitrag in den sozialen Medien, der aus der Zeit vor der Besetzung der Krim stammte, gegen die russischen Gesetze gegen Extremismus verstoßen. Es handelte sich um ein Video von einer Demonstration der muslimischen Organisation Hizb ut-Tahrir, die in Russland verboten ist, in der Ukraine jedoch nicht. Am 8. August ging die Polizei in Simferopol mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Server Karametov vor, weil er vor dem Gebäude des Obersten Gerichtshofs der Krim mit einem Schild gegen die Repressalien protestierte, denen Krimtataren ausgesetzt waren, und nahm ihn fest. Er wurde zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt. Am 22. September wurde der ukrainische Journalist Mykola Semena verurteilt, weil er nach Ansicht des Gerichts mit seinen Publikationen die „territoriale Integrität der Russischen Föderation bedroht“ hatte. Er erhielt eine Haftstrafe von zweieinhalb Jahren auf Bewährung und darf sich drei Jahre lang nicht an „öffentlichen Aktivitäten“ beteiligen. Im September wurden die führenden Vertreter der Krimtataren, Ahtem Chiygoz und Ilmi Umerov, wegen ihres friedlichen Aktivismus zu Gefängnisstrafen verurteilt. Am 25. Oktober wurden beide ohne offizielle Erklärung in die Türkei ausgeflogen und dort freigelassen. Ahtem Chiygoz hatte 34 Monate in Haft verbracht, und Ilmi Umerov war seit August oder September 2016 zwangsweise in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht. Bei beiden handelte es sich um gewaltlose politische Gefangene.

Waffenhandel

Am 28. September 2017 gab Olexander Turtschynow, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, den Beschluss ukrainischer Staatsunternehmen bekannt, Waffenlieferungen an den Südsudan einzufrieren. Die Ankündigung erfolgte einige Tage nachdem Amnesty International einen Bericht veröffentlicht hatte, der Vertragsdokumente und Endabnehmerzertifikate enthielt, in denen der staatliche ukrainische Waffenexporteur Ukrinmash als potenzieller Lieferant des südsudanesischen Verteidigungsministeriums für Kleinwaffen und leichte Waffen im Wert von 169 Mio. US-Dollar (etwa 138 Mio. Euro) genannt war. Als Reaktion auf den Bericht erklärte die ukrainische Ausfuhrkontrollbehörde, der betreffende Vertrag sei nicht erfüllt worden, man habe keine Waffen aus der Ukraine an den Südsudan geliefert. In den Vorjahren hatte die Ukraine stets Exporte von Kleinwaffen sowie leichten und schweren Waffen an die Regierung des Südsudans gemeldet.\\
Die Ukraine hatte den internationalen Waffenhandelsvertrag, den sie im September 2014 unterzeichnet hatte, noch nicht ratifiziert.

Berichte von Amnesty International

Put an end to impunity for detention-related abuses in the context of the armed conflict in Ukraine (EUR 50/5558/2017)

From London to Juba, a UK-registered company’s role in one of the largest arms deals to South Sudan (ACT 30/7115/2017)


Amnesty Report 2017 – Ukraine

Nach wie vor kam es im Osten der Ukraine auf beiden Seiten zu sporadischen Verstößen gegen den vereinbarten Waffenstillstand. Sowohl die ukrainischen Streitkräfte als auch die pro-russischen Separatisten verübten Verletzungen des humanitären Völkerrechts, darunter Kriegsverbrechen wie Folter, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. In der Ukraine und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk wurden Personen, die der Unterstützung der jeweils anderen Seite verdächtigt wurden, rechtswidrig inhaftiert, auch zum Zwecke des Gefangenenaustauschs. Die lang erwartete staatliche Ermittlungsbehörde zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen durch das Militär und durch Ordnungskräfte wurde offiziell eingerichtet, hatte ihre Tätigkeit Ende 2016 aber noch nicht aufgenommen. In den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk wurden Vertreter unabhängiger Medien und Aktivisten an der freien Ausübung ihrer Tätigkeit gehindert. In den Gebieten unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung sahen sich Medien, deren Haltung als pro-russisch betrachtet wurde, mit Schikanen konfrontiert. Der bisher größte Pride-Marsch von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen (LGBTI) in Kiew wurde von den städtischen Behörden unterstützt und von der Polizei wirksam geschützt. Auf der Krim setzten die De-facto-Behörden ihre Maßnahmen zur Unterdrückung jeglicher pro-ukrainischer Opposition fort, wobei sie zunehmend auf russische Gesetze zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus zurückgriffen und Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Dutzende Personen anstrengten, die als illoyal betrachtet wurden.

Hintergrund

Nach einer zweimonatigen politischen Krise und dem Rücktritt mehrerer hochrangiger reformorientierter Politiker, die die weitverbreitete Korruption angeprangert hatten, nahm das Parlament am 14. April 2016 den Rücktritt von Arsenij Jazenjuk an. Neuer Ministerpräsident wurde Wolodymyr Hrojsman.

Es kam nach wie vor zu sporadischen Gefechten und Schusswechseln zwischen ukrainischen Regierungskräften und von Russland unterstützten Separatisten. Auch weiterhin wurden Zivilpersonen durch Gewehr- und Geschützfeuer sowie Blindgänger getötet oder verletzt. Nach Schätzungen der UN-Beobachtermission für Menschenrechte waren infolge des Konflikts seit dessen Beginn im Jahr 2014 mehr als 9700 Menschen zu Tode gekommen, darunter etwa 2000 Zivilpersonen, und mindestens 22500 Menschen hatten Verletzungen erlitten.

Am 14. November 2016 veröffentlichte der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) seinen vorläufigen Bericht zur Ukraine. Darin kam er zu dem Schluss, dass die “Situation auf der Krim und in der Stadt Sewastopol einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation darstellt” und dass die vorliegenden Informationen “auf das Bestehen eines internationalen bewaffneten Konflikts im Kontext der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine hinweisen”. Im Juni 2016 verabschiedete das ukrainische Parlament eine Verfassungsänderung, wodurch die Ratifizierung des Römischen Statuts des IStGH für einen “Übergangszeitraum” von drei Jahren ausgesetzt wurde.

Die ukrainischen Behörden schränkten den Personenverkehr zwischen den von den Separatisten kontrollierten Regionen Donezk und Lugansk und den von der Ukraine kontrollierten Gebieten weiterhin stark ein.

Die russischen Behörden hielten Parlamentswahlen auf der Krim ab, die international nicht anerkannt wurden.

Die unter dem Konflikt leidende Wirtschaft begann sich etwas zu erholen: Das Bruttoinlandsprodukt stieg um etwa ein Prozent an. Der Preisanstieg für Waren des täglichen Bedarfs und grundlegende Versorgungsleistungen wie Heizung und Wasser setzte sich fort, wodurch sich die Lebensbedingungen eines Großteils der Bevölkerung weiter verschlechterten. Der Lebensstandard in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten sank weiter.

Folter und andere Misshandlungen

Bei der Strafverfolgung von Sicherheitskräften, die für die missbräuchliche Anwendung von Gewalt bei den “Euromaidan”-Protesten Ende 2013/Anfang 2014 in Kiew verantwortlich waren, gab es kaum Fortschritte. Die Ermittlungen wurden durch bürokratische Hürden behindert. Am 24. Oktober 2016 reduzierte die Generalstaatsanwaltschaft die Zahl der Mitarbeiter sowie die Befugnisse der für die Untersuchung der “Euromaidan”-Vorfälle zuständigen Sonderabteilung und richtete eine neue Einheit ausschließlich für Ermittlungen gegen den ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch und dessen engste Vertraute ein.

Im Februar 2016 wurde die neue Ermittlungsbehörde zur Untersuchung mutmaßlicher Straftaten von Ordnungskräften und Militär offiziell ins Leben gerufen. Allerdings stand das Ergebnis eines allgemeinen Auswahlverfahrens für die Wahl ihrer Leitung zum Jahresende noch aus.

Der UN-Unterausschuss zur Verhütung von Folter brach seinen Besuch in der Ukraine am 25. Mai 2016 vorzeitig ab, nachdem der Inlandsgeheimdienst der Ukraine (Sluschba bespeky Ukrajiny – SBU) ihm den Zugang zu einigen seiner Einrichtungen in der Ostukraine verweigert hatte. Berichten zufolge werden dort Gefangene in geheimer Haft gehalten, gefoltert und anderweitig misshandelt. Der Unterausschuss setzte seinen Besuch schließlich im September 2016 fort und erstellte einen Bericht, dessen Veröffentlichung von den ukrainischen Behörden jedoch nicht genehmigt wurde.

Verschwindenlassen

Der am 6. März 2016 “verschwundene” Anwalt Yuri Grabovski wurde am 25. März ermordet aufgefunden. Vor seinem “Verschwinden” hatte er sich über Einschüchterungs- und Schikanierungsversuche der ukrainischen Behörden beschwert, die ihn dazu bringen wollten, von der Verteidigung eines von zwei mutmaßlich russischen Soldaten zurückzutreten, die in der Ostukraine von Regierungskräften gefangen genommen worden waren. Auf einer Pressekonferenz Ende März gab der Oberste Militärstaatsanwalt der Ukraine bekannt, dass im Zusammenhang mit der Ermordung von Yuri Grabovski zwei Verdächtige festgenommen worden seien. Diese befanden sich zum Jahresende noch in Untersuchungshaft, während die Ermittlungen andauerten.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen

Sowohl seitens der ukrainischen Behörden als auch der separatistischen Kräfte im Osten der Ukraine kam es auf den von der jeweiligen Seite kontrollierten Gebieten zu rechtswidrigen Inhaftierungen. Zivilpersonen, die als Sympathisanten der anderen Seite galten, wurden als Geiseln für den Gefangenenaustausch benutzt. Wer für einen Gefangenenaustausch nicht in Frage kam, blieb häufig monatelang inoffiziell in Haft, ohne Rechtsbehelf oder Aussicht auf Freilassung.

Am 25. Februar 2016 kehrte Kostyantyn Beskorovaynyi nach Hause zurück, nachdem seine Entführung und ein indirektes offizielles Eingeständnis seiner geheimen Haft Gegenstand internationaler Kampagnen geworden waren. Im Juli versprach der Oberste Militärstaatsanwalt der Ukraine eine wirksame Untersuchung der Vorwürfe zum mutmaßlichen Verschwindenlassen von Kostyantyn Beskorovaynyi, seiner Folter und der 15-monatigen geheimen Inhaftierung durch den SBU. Zum Jahresende lagen jedoch noch keine konkreten Ergebnisse dieser Untersuchung vor.

Dutzende weitere Personen wurden in Einrichtungen des SBU in Mariupol, Pokrowsk, Kramatorsk, Isjum und Charkiw und möglicherweise an anderen Orten in geheimer Haft gehalten. Einige wurden schließlich gegen Gefangene der Separatisten ausgetauscht. Amnesty International und Human Rights Watch lag eine Liste mit den Namen von 16 Personen vor, die – wie drei unterschiedliche Quellen unabhängig voneinander bestätigten – seit 2014 bzw. 2015 als geheime Gefangene des SBU in Charkiw festgehalten wurden. Die Liste wurde den ukrainischen Behörden übergeben. Mindestens 18 Personen, darunter die 16 unabhängig voneinander bestätigten Gefangenen, wurden daraufhin freigelassen, eine offizielle Bestätigung ihrer Inhaftierung erfolgte jedoch nicht. Von den Freigelassenen entschlossen sich Vyktor Ashykhmyn, Mykola Vakaruk und Dmytro Koroliov offiziell Anzeige zu erstatten.

In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk setzten lokale “Ministerien für Staatssicherheit” die ihnen im Rahmen lokaler “Verordnungen” verliehenen Befugnisse dazu ein, Personen bis zu 30 Tage lang willkürlich zu inhaftieren und diese Haftdauer wiederholt zu verlängern. Igor Kozlovsky (festgenommen am 27. Januar 2016) und Volodymyr Fomychev (festgenommen am 4. Januar 2016) wurden beide des Besitzes illegaler Waffen beschuldigt, stritten dies jedoch ab. Außerdem warf man ihnen die “Unterstützung” der “ukrainische Seite” vor. Am 16. August verurteilte ein Gericht in Donezk Volodymyr Fomychev zu zwei Jahren Gefängnis. Igor Kozlovsky befand sich zum Jahresende noch in Untersuchungshaft.

Binnenvertriebene

Der UN-Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung äußerte in seinem Bericht 2016 zur Ukraine mehrere Bedenken hinsichtlich der Probleme von Binnenvertriebenen. Dazu gehörte die Koppelung von Sozialleistungen wie z. B. Renten an den Status von Binnenvertriebenen und an einen Wohnsitz in von der Ukraine kontrollierten Gebieten.

Meinungsfreiheit – Journalisten

Medien, deren Ausrichtung als pro-russisch oder pro-separatistisch wahrgenommen wurde oder die sich besonders kritisch über die Behörden äußerten, wurden unter Druck gesetzt, u. a. indem man ihnen mit dem Entzug der Zulassung oder mit physischer Gewalt drohte. Das Innenministerium drohte dem Fernsehsender Inter mehrfach mit Schließung. Am 4. September 2016 versuchten sich etwa 15 maskierte Männer mit Gewalt Zugang zu den Räumen des Senders zu verschaffen, dem sie eine pro-russische Berichterstattung vorwarfen. Als ihr Versuch erfolglos blieb, warfen sie Molotowcocktails in das Gebäude und lösten einen Brand aus.

Dem beliebten Fernsehmoderator Savik Shuster, der die italienische und die kanadische Staatsbürgerschaft besitzt, wurde von der ukrainischen Einwanderungsbehörde unter Verletzung geltender Bestimmungen die Arbeitserlaubnis entzogen. Das Berufungsgericht in Kiew setzte die Erlaubnis am 12. Juli 2016 wieder in Kraft. Im Anschluss leiteten die Steuerbehörden ein Strafverfahren gegen Savik Shusters Fernsehsender 3S.TV ein. Am 1. Dezember gab Savik Shuster angesichts des Drucks und fehlender finanzieller Ressourcen bekannt, den Betrieb des Senders einzustellen.

Ruslan Kotsaba, ein freiberuflicher Journalist und Blogger aus Iwano-Frankiwsk, wurde am 12. Mai 2016 wegen “Behinderung der rechtmäßigen Aktivitäten der ukrainischen Streitkräfte in einem bestimmten Zeitraum” zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

Er war 2015 festgenommen worden, nachdem er in einem YouTube-Video das sofortige Ende der Kämpfe im Donbass gefordert und ukrainische Männer aufgefordert hatte, sich der Einberufung in die Armee zu widersetzen. Am 12. Juli wurde er in einem Rechtsmittelverfahren freigesprochen und unverzüglich auf freien Fuß gesetzt. Am 20. Juli 2016 wurde der Journalist Pavel Sheremet in der Hauptstadt Kiew durch eine Autobombe getötet. Zum Jahresende hatte man noch keine Schuldigen ermittelt. Auch im Fall der Ermordung des Journalisten Oles Buzina, der 2015 von zwei maskierten Tätern erschossen worden war, blieben die Ermittlungen ohne Ergebnis.

In Gebieten, die von den Separatisten kontrolliert wurden, sowie auf der Krim konnten Journalisten, die pro-ukrainische Ansichten vertraten oder für ukrainische Medien berichteten, nicht frei arbeiten. Ein russisches Team des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doschd wurde in Donezk festgenommen und vom Ministerium für Staatssicherheit nach Russland abgeschoben, nachdem es ein Interview mit einem ehemaligen Befehlshaber der Separatisten aufgezeichnet hatte.

Auf der Krim konnten unabhängige Journalisten nicht frei arbeiten. Journalisten vom ukrainischen Festland hatten keinen Zugang zu der Halbinsel und wurden an der De-facto-Grenze zurückgewiesen. Einheimischen Journalisten und Bloggern, die sich kritisch über die russische Besetzung und Annexion der Krim äußerten, drohte Strafverfolgung, und nur wenige wagten es, ihre Ansichten offen zu äußern. Gegen Mykola Semena, einen erfahrenen Journalisten, wurde wegen des Vorwurfs des “Extremismus” ermittelt (ein Tatbestand, der mit bis zu sieben Jahren Haft geahndet werden konnte); er wurde mit einem Reiseverbot belegt. Mykola Semena hatte im Internet unter einem Pseudonym einen Artikel veröffentlicht, in dem er die “Blockade” der Krim durch pro-ukrainische Aktivisten als notwendige Maßnahme bezeichnete, um die Halbinsel an die Ukraine “zurückgeben” zu können. Er wurde offiziell der “Unterstützung von Extremismus” bezichtigt, und sein Bankkonto wurde eingefroren. Die Ermittlungen in seinem Fall dauerten Ende 2016 noch an.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen

Am 19. März 2016 verbot ein Gericht in Lwiw im Westen der Ukraine aufgrund von Sicherheitsbedenken die Austragung eines LGBTI-Festivals für Gleichberechtigung, das im Freien stattfinden sollte. Daraufhin verlegten die Veranstalter das Festival nach drinnen. Der Veranstaltungsort wurde jedoch von einer Gruppe maskierter rechter Aktivisten angegriffen. Es wurden keine Verletzungen gemeldet, doch die Veranstalter sahen sich gezwungen, das Festival abzusagen.

Am 12. Juni 2016 fand im Zentrum von Kiew mit Unterstützung der städtischen Behörden und unter starkem Polizeischutz eine LGBTI-Pride-Parade statt. Mit einer Anzahl von etwa 2000 Teilnehmenden war dies die bisher größte Veranstaltung ihrer Art in der Ukraine.

Krim

In keinem der Fälle von Verschwindenlassen, die sich im Anschluss an die russische Besetzung ereignet hatten, gab es gründliche Ermittlungen. Ervin Ibragimov, ein Mitglied des Weltkongresses der Krimtataren, wurde zuletzt am 24. Mai 2016 in der Nähe seines Hauses in der Stadt Bachtschyssaraj auf der Krim gesehen. Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, wie eine Gruppe uniformierter Männer ihn in einen Lieferwagen zwingt, der anschließend losfährt. Obwohl Ermittlungen eingeleitet wurden, gab es zum Jahresende noch keine neuen Erkenntnisse.

Die bereits stark eingeschränkten Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurden 2016 noch weiter beschnitten. Die Websites einiger unabhängiger Medienkanäle, die in den Jahren zuvor gezwungen waren, ihren Sitz auf das ukrainische Festland zu verlegen, wurden von den De-facto-Behörden auf der Krim gesperrt. Am 7. März 2016 verbot der Bürgermeister von Simferopol, der Hauptstadt der Krim, alle öffentlichen Versammlungen, die nicht von den Behörden organisiert wurden.

Ethnische Krimtataren waren von dem Bestreben der De-facto-Behörden zur Beseitigung jeglicher pro-ukrainischer Opposition nach wie vor besonders stark betroffen. Am 18. April wurde der Medschlis, eine von der krimtatarischen Volksversammlung Kurultai gewählte Vertretung, aufgelöst und am 26. April von einem Gericht als “extremistisch” verboten. Das Verbot wurde am 29. September vom Obersten Gerichtshof der Russischen Föderation bestätigt.

Das Verfahren gegen Ahtem Chiygoz, den stellvertretenden Vorsitzenden des Medschlis, wegen konstruierter Anklagen bezüglich des Organisierens von “Massenunruhen” am 26. Februar 2014, dem Vorabend der russischen Besetzung, in Simferopol dauerte weiter an. Damals war es auf einer vorwiegend friedlichen Versammlung zu Zusammenstößen zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Demonstrierenden gekommen. Ahtem Chiygoz war während des Prozesses in der Nähe des Gerichtsgebäudes in Untersuchungshaft untergebracht und durfte nur per Videoschaltung an seinen Verhandlungsterminen teilnehmen, da er als “gefährlich” eingestuft wurde. Ahtem Chiygoz ist einer von mehreren gewaltlosen politischen Gefangenen auf der Krim. Auch Ali Asanov und Mustafa Degermendzhi befanden sich 2016 noch in Untersuchungshaft. Ihnen wurde ebenfalls vorgeworfen, an den “Massenunruhen” am 26. Februar 2014 beteiligt gewesen zu sein.

Die russischen Behörden benutzten den mutmaßlichen Besitz “extremistischer Literatur” und die mutmaßliche Mitgliedschaft in der islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir als Vorwand für Hausdurchsuchungen bei Krimtataren (in der Mehrzahl Muslime) und Festnahmen. Mindestens 19 Männer wurden als mutmaßliche Mitglieder von Hizb ut-Tahrir festgenommen. Von ihnen wurden vier Männer aus Sewastopol unter Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht vor ein Militärgericht in Russland gestellt und zu Haftstrafen zwischen fünf und sieben Jahren verurteilt. Während des Prozesses versuchten nahezu alle Zeugen der Anklage, ihre früheren Aussagen zu widerrufen. Sie gaben an, diese unter Zwang getätigt zu haben, Angehörige des russischen Geheimdienstes hätten ihnen mit Strafverfolgung gedroht.


Amnesty Report 2016 – Ukraine

Das Jahr 2015 begann mit intensiven Kämpfen zwischen pro-russischen Separatisten und ukrainischen Kräften im Osten des Landes und endete mit sporadischen Verstößen gegen einen brüchigen Waffenstillstand. Beide Konfliktparteien begingen Kriegsverbrechen, die größtenteils straffrei blieben. Bei der Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen und Verstößen im Zusammenhang mit den pro-europäischen Demonstrationen Ende 2013/Anfang 2014 in der Hauptstadt Kiew (“Euromaidan”) und bei der Strafverfolgung der dafür Verantwortlichen gab es kaum Fortschritte. Ein Gesetz zur Einrichtung einer neuen staatlichen Ermittlungsbehörde stellte einen wichtigen Schritt dar, um Menschenrechtsverstöße durch Ordnungskräfte wirksam zu untersuchen. In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie auf der Krim wurden unabhängige und kritische Medien und Aktivisten an der freien Ausübung ihrer Tätigkeit gehindert. In den Gebieten unter Kontrolle der ukrainischen Regierung wurden Medien und Einzelpersonen schikaniert, deren Haltung als pro-russisch oder pro-separatistisch betrachtet wurde. Im Juni 2015 wurde ein Pride-Marsch von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen in Kiew trotz Polizeischutz gewaltsam gestört. Im November 2015 verabschiedete das Parlament eine Gesetzesnovelle, wonach Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität ausdrücklich verboten ist.

Hintergrund

Im Januar und Februar 2015 kam es zu heftigen Kämpfen in der Donbass-Region in der Ostukraine, als von Russland unterstützte Separatisten in Donezk und Lugansk versuchten, weiter vorzustoßen und die Frontlinie zu begradigen. Nach schweren militärischen Verlusten mussten die ukrainischen Regierungstruppen die Kontrolle über den Flughafen Donezk und das Gebiet um Debalzewe aufgeben. Die Hinweise auf eine massive Unterstützung der Separatisten durch russische Soldaten und Militärwaffen verdichteten sich, obwohl Russland nach wie vor jede direkte militärische Beteiligung bestritt. Im Februar 2015 konnte unter internationaler Vermittlung ein Abkommen zwischen der ukrainischen Regierung und den De-facto-Behörden der Volksrepubliken Lugansk und Donezk erzielt werden, das zu einem brüchigen Waffenstillstand führte. Im September 2015 zogen beide Seiten schwere Waffen ab. Bis zum Jahresende kam es jedoch immer wieder zu Verstößen gegen die Waffenruhe, die zu weiteren Opfern führten. Nach UN-Angaben wurden seit dem Beginn des Konflikts bis Ende 2015 mehr als 9000 Menschen getötet, darunter etwa 2000 Zivilpersonen. Mehr als 2,5 Mio. Menschen wurden vertrieben, davon 1,1 Mio. ins Ausland.

Am 8. September 2015 hinterlegte die Ukraine beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) eine Erklärung, in der sie die Gerichtsbarkeit des IStGH für mutmaßliche Verbrechen anerkannte, die ab dem 20. Februar 2014 auf ihrem Gebiet begangen wurden, und bezog sich damit auch auf den Konflikt in der Ostukraine. Das Römische Statut des IStGH hatte das Land jedoch noch nicht ratifiziert.

Rechtsgerichtete Gruppen, die nach den Maidan-Protesten 2014 keine nennenswerte Unterstützung bei den Wahlen erhalten hatten, waren an einer Reihe gewaltsamer Zwischenfälle beteiligt. Im Juli 2015 kam es in der Oblast Transkarpatien zu einer Schießerei zwischen bewaffneten paramilitärischen Kräften der nationalistischen Organisation Rechter Sektor (Prawyj Sektor) und der Polizei, bei der drei Männer starben. Im August 2015 wurden bei einer Demonstration der rechten Svoboda-Partei, die nicht im Parlament vertreten ist, vier Angehörige der Nationalgarde vor dem Parlament von einer Handgranate getötet. Mehrere Svoboda-Aktivisten wurden festgenommen.

Im Oktober und November 2015 fanden in den von der Regierung kontrollierten Gebieten der Ukraine Kommunalwahlen statt. Aus Sicherheitsgründen wurde die Wahl allerdings in Mariupol zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt, in einigen Städten und Dörfern im Osten und Süden der Ukraine konnte sie gar nicht stattfinden.

Am 20. September 2015 richteten Aktivisten aus Protest gegen die russische Besetzung der Krim an der Grenze zu der Halbinsel Kontrollpunkte ein und stoppten die Lieferung von Nahrungsmitteln und anderen Gütern, die auf dem Landweg von der Ukraine auf die Krim transportiert wurden. Im November 2015 sprengten Unbekannte vier Strommasten, über deren Leitungen mehr als 70% des Strombedarfs der Krim flossen, was auf der gesamten Halbinsel zu einem Stromausfall führte. Arbeiter, die im Auftrag der ukrainischen Behörden die Leitungen reparieren sollten, wurden von antirussischen Aktivisten an ihrer Arbeit gehindert. Ab dem 8. Dezember lieferte die Ukraine wieder Strom auf die Krim, die Stromversorgung funktionierte aber am Jahresende noch nicht völlig reibungslos.

Das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine schrumpfte 2015 um mehr als 12%. Die Landeswährung verlor gegenüber dem US-Dollar die Hälfte ihres Werts, wodurch sich die wirtschaftliche Lage eines Großteils der Bevölkerung weiter verschärfte. In den von Separatisten kontrollierten Gebieten kam es zu einer weiteren gravierenden Verschlechterung der Lebensbedingungen. Die Regierung in Kiew schränkte den Personen- und Warenverkehr zwischen der Ukraine und diesen Gebieten weiter ein.

Folter und andere Misshandlungen

Zwei Jahre nach den Protesten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz “Maidan” hatte es noch keine nennenswerten Fortschritte bei der Strafverfolgung von Sicherheitskräften gegeben, die damals exzessive, unnötige und unrechtmäßige Gewalt angewandt hatten. Im November 2015 meldete die Generalstaatsanwaltschaft, sie untersuche im Zusammenhang mit den Protesten weiterhin mehr als 2000 Vorfälle; gegen 270 Personen seien strafrechtliche Verfahren eingeleitet worden. Gegen zwei ehemalige Angehörige der Berkut, einer Sondereinheit der Bereitschaftspolizei begann 2015 ein Prozess wegen Totschlags und Amtsmissbrauchs in Zusammenhang mit der Tötung von 39 Demonstrierenden am 20. Februar 2014. Am 7. Dezember 2015 verurteilte das Gericht des Kiewer Bezirks Obolon die Studenten Aziz Tagirov und Ramil Islamli zu vier Jahren Haft bzw. vier Jahren Haft auf Bewährung, weil sie am 21. Januar 2014 einen Demonstranten verprügelt, entführt und mit dem Tode bedroht hatten. Weitere Urteile zu Straftaten im Zusammenhang mit den Maidan-Protesten wurden 2015 nicht gefällt.

Das Internationale Beratergremium, das der Europarat eingesetzt hatte, um die Untersuchungen der Ereignisse auf dem Maidan und der gewaltsamen Ausschreitungen in Odessa am 2. Mai 2014 zu kontrollieren, veröffentlichte 2015 zwei Berichte. In beiden stellte das Gremium fest, dass die Untersuchungen “nicht den Erfordernissen der Europäischen Menschenrechtskonvention entsprachen”.

Am 12. November 2015 beschloss das Parlament ein Gesetz zur Einrichtung einer neuen Strafverfolgungsbehörde. Das Staatliche Ermittlungsbüro soll u.a. mutmaßliche Straftaten von Ordnungskräften untersuchen. Ende 2015 hatte der Präsident das Gesetz noch nicht unterzeichnet.

Bewaffneter Konflikt

Im Zuge der eskalierenden Auseinandersetzungen in der Donbass-Region im Januar und Februar 2015 wurden weiterhin wahllos Wohngebiete beschossen. Für den Beschuss machten sich die Konfliktparteien jeweils gegenseitig verantwortlich. Auf beiden Seiten wurden Kriegsverbrechen verübt, darunter Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen. Es gab bestätigte Berichte über vorsätzliche Tötungen von Gefangenen durch Separatisten.

Am 13. Januar 2015 wurde ein Bus mit Zivilpersonen, der an einem Kontrollpunkt ukrainischer Einheiten in der Nähe von Wolnowacha wartete, von einer Grad-Rakete getroffen. Dabei kamen zwölf Menschen zu Tode. Am 22. Januar 2015 starben 15 Personen, als eine Mörsergranate einen öffentlichen Bus in der Stadt Donezk traf. Bei Raketenangriffen der Separatisten auf das dicht besiedelte Stadtviertel Vostochny in Mariupol am 24. Januar 2015 wurden 29 Zivilpersonen getötet und mehr als 100 verletzt.

Ihor Branovytsky war einer von zwölf ukrainischen Männern, die den Flughafen Donezk verteidigten und am 21. Januar 2015 durch das separatistische Sparta-Bataillon gefangen genommen wurden. Er wurde während seines Verhörs bewusstlos geschlagen und vom Befehlshaber des Bataillons mit einem Kopfschuss getötet. Dieser gab später in einem Telefoninterview zu, 15 Gefangene getötet zu haben.

Die drei ukrainischen Armeeangehörigen Andriy Kolesnyk, Albert Sarukhanyan und Serhiy Slisarenko waren zuletzt lebend auf Filmaufnahmen zu sehen, die bei ihrer Gefangennahme im Dorf Krasnyi Partizan am 22. Januar 2015 gemacht wurden. Sie starben kurz darauf an Schussverletzungen, die ihnen aus kurzer Entfernung zugefügt wurden.

Ein ehemaliger Gefangener berichtete, er sei mehrere Wochen lang in einer überfüllten Zelle im Keller eines Gebäudes in der Nähe von Welykomychailiwka gefangen gehalten worden. Das Dorf diente dem paramilitärischen Rechten Sektor als Stützpunkt. Vor seiner Freilassung Anfang 2015 seien er und mindestens zwölf Männer und eine Frau unterschiedlich lang in der Zelle inhaftiert gewesen und täglich geschlagen und in anderer Weise misshandelt worden. Ein Sprecher des Rechten Sektors bestätigte, dass seine Mitglieder mutmaßliche Separatisten gefangen nehmen würden, bestritt jedoch jegliche Misshandlung. Die Vorwürfe wurden jedoch von einer weiteren anonymen Quelle bestätigt.

Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft wurden gegen Mitglieder des Rechten Sektors mindestens drei Verfahren eingeleitet wegen mutmaßlicher Straftaten, die zwischen August 2014 und Mai 2015 verübt worden waren, darunter Entführung, Misshandlung und Erpressung. Gegenstand waren außerdem die Misshandlung und das Verschwinden eines Mannes im November 2014 unter mutmaßlicher Beteiligung von freiwilligen paramilitärischen Kräften und Angehörigen des ukrainischen Geheimdienstes. In allen drei Fällen dauerten die Ermittlungen Ende 2015 noch an.

Gewaltlose politische Gefangene

Ruslan Kotsaba, ein freiberuflicher Journalist und Blogger aus Iwano-Frankiwsk, wurde am 7. Februar 2015 festgenommen, nachdem er in einem YouTube-Video das sofortige Ende der Kämpfe im Donbass gefordert und ukrainische Männer aufgerufen hatte, sich der Einberufung in die Armee zu widersetzen. Er wurde in Untersuchungshaft genommen und am 31. März 2015 wegen “Landesverrats” und “Behinderung der rechtmäßigen Aktivitäten der Streitkräfte der Ukraine” angeklagt. Sein Verfahren dauerte Ende 2015 noch an.

Recht auf freie Meinungsäußerung

In den Gebieten unter Kontrolle der ukrainischen Regierung konnten Journalisten 2015 im Allgemeinen frei arbeiten. Angesichts der russischen Besetzung und Annexion der Krim 2014 und des andauernden Konflikts in der Ostukraine wurden allerdings Medien schikaniert, deren Ausrichtung als pro-russisch oder pro-separatistisch wahrgenommen wurde. Die Fernsehsender 112 Ukraine und Inter TV erhielten offizielle Warnungen des staatlichen Fernseh- und Rundfunkrats, weil sie z.B. Interviews und Berichte über die von den Separatisten kontrollierten Gebiete gesendet hatten, in denen Einheimische zu Wort kamen, die den Separatisten ihre Unterstützung aussprachen. Die Behörde drohte den Sendern, ihnen nach dreifacher Warnung ihre Zulassung zu entziehen.

Der Journalist Oles Buzina, der für seine pro-russischen Ansichten bekannt war und dem mehr als 25000 Menschen auf Facebook folgten, wurde am 16. April 2015 vor seinem Haus von zwei maskierten Tätern erschossen. Nach der Festnahme von zwei Verdächtigen am 18. Juni verkündete Innenminister Arsen Awakow auf Facebook, der Fall sei “aufgeklärt”. Die beiden verdächtigten Männer beteuerten ihre Unschuld und beklagten sich über physischen und psychischen Druck durch die Ermittler. Ihr Verfahren war Ende 2015 noch nicht abgeschlossen.

Im Mai 2015 unterzeichnete Präsident Petro Poroschenko vier sogenannte “Entkommunisierungsgesetze”, die u.a. kommunistische und faschistische Symbole verbieten. Im Juli strengte das Justizministerium Gerichtsverfahren an, um ein Verbot der Kommunistischen Partei der Ukraine und zweier kleinerer Parteien zu erreichen, die sich selbst als “kommunistisch” bezeichneten. Die beiden kleineren Parteien, die faktisch bereits nicht mehr tätig waren, wurden am 1. Oktober 2015 verboten. Die Kommunistische Partei wurde am 16. Dezember verboten, legte jedoch am 28. Dezember Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein.

Journalisten, die pro-ukrainische Ansichten vertraten oder für ukrainische Medien berichteten, konnten in Gebieten, die von den Separatisten kontrolliert wurden, nicht offen arbeiten. Am 16. Juni 2015 wurde der russische Journalist Pavel Kanygin von Separatisten in Donezk mehrere Stunden lang festgehalten und brutal geschlagen, bevor man ihn freiließ. Er hatte für die russische Zeitung Nowaja Gazeta mehrfach über zwei russische Staatsbürger berichtet, die im Donbass von ukrainischen Streitkräften gefangen genommen worden waren, und die offizielle russische Darstellung, nach der es sich bei ihnen nicht um Soldaten im Dienst handelte, als unwahr angeprangert.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen

Nach langwierigen Verhandlungen zwischen den Organisatoren und den Behörden fand am 6. Juni 2015 eine Pride-Parade statt. Präsident Petro Poroschenko unterstützte in Äußerungen vor und nach der Parade das Recht auf Versammlungsfreiheit von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen. Die Polizei erklärte sich jedoch erst am Vortag dazu bereit, die Demonstration zu schützen. Zahlreiche rechtsgerichtete Gegendemonstrierende durchbrachen die Reihen der Polizei und griffen die Parade an. Dabei wurden zehn Teilnehmende und drei Polizisten verletzt. 25 Angreifer wurden festgenommen und später wieder freigelassen. Die Organisatoren der Parade erhielten Drohungen auf ihren Mobiltelefonen und Online. Die Behörden leiteten vier strafrechtliche Verfahren gegen Gegendemonstrierende ein, die Ende 2015 noch nicht abgeschlossen waren.

Im August 2015 verbot ein Gericht in Odessa eine geplante Pride-Parade unter Hinweis auf die Gefahren, die der “öffentlichen Ordnung” und der Sicherheit der Teilnehmenden drohten. Anstelle der Demonstration veranstalteten die Organisatoren am 15. August ein kleineres Festival für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgeschlechtliche und Intersexuelle, das nicht auf der Straße stattfand. Während des Festivals griffen mehrere maskierte Männer das Organisationsbüro mit Feuerwerkskörpern und Rauchbomben an.

Am 12. November 2015 verabschiedete das Parlament in Kiew eine gesetzliche Regelung, die Diskriminierung am Arbeitsplatz aus Gründen der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität verbietet. Gegen die Neuregelung, die von der EU als Bedingung für Visa-Erleichterungen gefordert worden war, gab es unter den Abgeordneten lange Zeit Widerstand. Sie wurde am 23. November vom Präsidenten unterzeichnet.

Krim

Zu sechs Fällen mutmaßlichen Verschwindenlassens krimtatarischer Aktivisten im Jahr 2014 sowie zu dem bestätigten Fall eines Mannes, der entführt, gefoltert und getötet worden war, gab es keine gründlichen Ermittlungen. Dabei lag eine Fülle von Beweisen vor, u.a. Videoaufnahmen, die stark darauf hindeuteten, dass pro-russische paramilitärische Kräfte, die sich als “Selbstverteidigungskräfte der Krim” bezeichneten, zumindest für einen Teil der Verbrechen verantwortlich waren.

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurden von den De-facto-Behörden der Krim nach der Besetzung und Annexion durch Russland 2014 weiter beschnitten. Wer pro-ukrainische Ansichten äußerte, musste mit harten Repressalien rechnen. Besonders betroffen waren Krimtataren: Ihre öffentlichen Veranstaltungen wurden regelmäßig verboten, und Medien in krimtatarischer Sprache mussten ihren Betrieb einstellen. Führende Vertreter der Krimtataren sahen sich mit regelmäßigen Hausdurchsuchungen, strafrechtlicher Verfolgung und Inhaftierung aufgrund politisch motivierter Anklagen konfrontiert.

Der Medschlis, eine von der krimtatarischen Volksversammlung gewählte Vertretung, war weiteren Repressalien ausgesetzt. Sein stellvertretender Vorsitzender, Ahtem Chiygoz, wurde am 29. Januar 2015 inhaftiert. Man warf ihm vor, am 26. Februar 2014 “Massenunruhen” organisiert zu haben. Die De-facto-Behörden warnten mehrfach, der Medschlis könne nach russischem Recht als extremistische Gruppe eingestuft werden. Der ehemalige Vorsitzende des Medschlis, Mustafa Dschemiljew, sowie der derzeitige Vorsitzende, Refat Tschubarow, waren weiterhin offiziell aus ihrer Heimat verbannt. Am 28. Oktober 2015 gab der De-facto-Staatsanwalt der Krim bekannt, Tschubarow könne heimkehren, nachdem ein Gericht in Simferopol am 6. Oktober 2015 seine Inhaftierung wegen “Aufrufen gegen die territoriale Integrität der Russischen Föderation” angeordnet hatte.

Der krimtatarische Fernsehsender ATR musste die Ausstrahlung seiner Programme zum 1. April 2015 einstellen, nachdem der Sender innerhalb einer vorgegebenen Frist keine neue Lizenz nach russischem Recht erhalten hatte. Der Sender hatte die Lizenzverlängerung mindestens vier Mal beantragt und war jedes Mal willkürlich abgewiesen worden. ATR setzte die Ausstrahlung von der Ukraine aus fort, seine Reporter konnten jedoch auf der Krim nicht mehr offen arbeiten.

Am 9. März 2015 wurden Aleksandr Kravchenko, Leonid Kuzmin und Veldar Shukurdzhiev bei einer kleinen Versammlung auf der Straße in Simferopol festgenommen. Sie wollten den 201. Geburtstag des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko feiern und verwendeten dafür auch Nationalsymbole wie gelbe und blaue Bänder. Die drei Männer wurden auf eine Polizeiwache gebracht, nach drei Stunden wieder freigelassen und wegen Verstoßes gegen Vorschriften für öffentliche Versammlungen zu je 40 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Sie wurden in der Folge von Angehörigen der Anti-Extremismus-Einheit der Polizei immer wieder schikaniert, u.a. durch Festnahmen und inoffizielle Verhöre. Leonid Kuzmin verlor außerdem seine Stelle als Geschichtslehrer.

Die Aktivisten Oleg Sentsov und Alexander Kolchenko, die gegen die Besetzung der Krim protestiert hatten, wurden unter Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht außerhalb der Krim vor Gericht gestellt. Ihnen wurde wegen überzogener Terrorismusvorwürfe vor einem Militärgericht in der südrussischen Stadt Rostow am Don nach russischem Recht der Prozess gemacht. Oleg Sentsov erhielt eine Haftstrafe von 20 Jahren, Alexander Kolchenko von zehn Jahren. Die Verfahren waren unfair und beruhten auf Aussagen, die mutmaßlich unter Folter zustande gekommen waren. Das Urteil wurde am 24. November 2015 vom Obersten Gerichtshof der Russischen Föderation bestätigt.


Amnesty Report 2015 – Ukraine

Die Gewalt nach den Protesten in der Hauptstadt Kiew und später in der Ostukraine eskalierte zu einem bewaffneten Konflikt unter russischer Beteiligung. Nach wie vor kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei, darunter Folter und andere Misshandlungen, sowie zur exzessiven Anwendung von Gewalt bei Demonstrationen. Die dafür Verantwortlichen blieben größtenteils straflos, und Untersuchungen dieser Vorfälle führten zu keinem Ergebnis. Es gab Entführungen von Einzelpersonen, insbesondere durch pro-russische paramilitärische Kräfte auf der russisch besetzten Halbinsel Krim. Aber auch in den umkämpften Gebieten der Ostukraine kam es zu Entführungen durch beide Konfliktparteien. Beide Seiten waren für Verletzungen des Kriegsrechts verantwortlich. Auf der Krim wurden die russischen Beschränkungen der Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeführt. Pro-ukrainische Aktivisten und Krimtataren gerieten ins Visier paramilitärischer Kräfte und wurden von den De-facto-Behörden verfolgt.

Hintergrund

Nachdem sich die ukrainische Regierung Ende 2013 gegen ein Assoziierungsabkommen mit der EU entschieden hatte, kam es in Kiew zu pro-europäischen Demonstrationen (“Euromaidan”), die am 22. Februar 2014 schließlich zum Sturz von Präsident Wiktor Janukowytsch führten. Die gewaltsame Auflösung einer zunächst friedlichen Demonstration in der Nacht vom 29. auf den 30. November 2013 durch die Polizei führte zu einer zunehmenden Radikalisierung der Demonstrierenden. Protestierende errichteten Zelte auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz Maidan und besetzten mehrere Gebäude. Obwohl die meisten Protestierenden friedlich blieben, eskalierte die Gewalt auf beiden Seiten. Mindestens 85 Demonstrierende und 18 Polizeibeamte starben infolge der Gewalt auf dem Maidan, Hunderte Menschen wurden verletzt.

Nachdem Wiktor Janukowytsch die Ukraine heimlich verlassen hatte und eine Übergangsregierung gebildet worden war, brachen in der vorwiegend russischsprachigen Donbass-Region in der Ostukraine zunehmend gewaltsame Proteste aus. Auf der Krim besetzten bewaffnete paramilitärische Kräfte, die sich als “Selbstverteidigungskräfte” bezeichneten, in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar 2014 Verwaltungsgebäude und blockierten gemeinsam mit Angehörigen der regulären russischen Armee Einrichtungen des ukrainischen Militärs auf der gesamten Halbinsel. Am 27. Februar wählte das Parlament der Krim unter Anwesenheit bewaffneter Männer eine neue Führung. Am 16. März wurde ein “Referendum” zum Status der Krim abgehalten. Die Teilnehmer stimmten mit überwältigender Mehrheit für eine Eingliederung in die Russische Föderation, während Gegner die Abstimmung boykottierten. Am 18. März unterzeichnete die De-facto-Führung der Krim in Moskau ein “Abkommen”, das zur Annexion der Halbinsel durch Russland führte.

Bewaffnete Gegner der neuen Regierung in Kiew besetzten bis April 2014 in den ostukrainischen Städten Donezk und Lugansk sowie in einigen kleineren Orten Verwaltungsgebäude, darunter auch Polizei- und Geheimdienstzentralen, und brachten so weite Teile des Donbass faktisch unter ihre Kontrolle. Am 15. April 2014 kündigte die ukrainische Regierung eine “Antiterroroperation” gegen die Separatisten an. Die Situation eskalierte innerhalb kurzer Zeit zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Regierungstruppen und bewaffneten Separatistengruppen, die von Russland unterstützt wurden. Die Regierungskräfte erzielten stetige Fortschritte, bis Russland Ende August sein verdecktes Engagement in der Ukraine verstärkte. Bei Verhandlungen in Belarus einigten sich die Konfliktparteien im September auf einen Waffenstillstand. Die Kämpfe gingen jedoch weiter, wenn auch in geringerem Maße. Ende 2014 hatte der Konflikt mehr als 4000 Menschen das Leben gekostet. Nachdem die De-facto-Führung in Donezk und Lugansk am 2. November 2014 “Wahlen” abhielt, zog die Regierung in Kiew ihr Angebot zurück, der Region mehr Autonomie zu gewähren.

Aus den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 25. Mai 2014 und den Parlamentswahlen am 26. Oktober gingen pro-europäische Politiker und Parteien als stärkste Kraft hervor. Am 16. September ratifizierten das Europaparlament und das ukrainische Parlament ein Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU. Ende 2014 stand die Zustimmung einiger EU-Mitgliedstaaten jedoch noch aus.

Straflosigkeit

Polizeikräfte, die für exzessiven Gewalteinsatz sowie für Folter und andere Misshandlungen verantwortlich waren, genossen Straffreiheit. Dieses grundsätzliche Problem wurde im Zusammenhang mit den Demonstrationen auf dem Maidan von November 2013 bis Februar 2014 besonders deutlich. Am 30. November 2013 ging die Bereitschaftspolizei erstmals gewaltsam gegen vollkommen friedliche Demonstrierende vor, als diese sich weigerten, ihre Kundgebung aufzulösen. Dabei wurden Dutzende Menschen verletzt und 35 friedliche Demonstrierende wegen “Rowdytums” kurzzeitig inhaftiert. Nach harscher Kritik am Vorgehen der Polizei wurde ein leitender Polizeibeamter in Kiew entlassen. Berichten zufolge leiteten die Behörden gegen ihn und vier weitere Polizisten Strafverfahren ein, die jedoch zu keinem Ergebnis führten. In den folgenden Wochen und Monaten ging die Polizei wiederholt mit unangemessener Gewalt gegen die Maidan-Proteste vor, nahm Personen willkürlich fest und versuchte, Strafverfahren gegen Demonstrierende einzuleiten. Ende Februar wurde mit scharfer Munition geschossen, u.a. von Scharfschützen, es blieb jedoch unklar, wer sie eingesetzt hatte und unter wessen Befehl sie standen. Im November 2014 gab der Leiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes (SBU) bekannt, dass 16 ehemalige Angehörige der Bereitschaftspolizei und fünf leitende SBU-Beamte im Zusammenhang mit der Tötung von Protestierenden in Kiew festgenommen worden seien.

Nach dem Sturz von Wiktor Janukowytsch versprach die neue Regierung öffentlich, man werde diejenigen strafrechtlich verfolgen, die für Tötungen und Misshandlungen von Protestierenden auf dem Maidan verantwortlich seien. Doch abgesehen von Anklagen gegen die ehemalige politische Führungsriege wurden so gut wie keine konkreten Schritte unternommen.

Nur zwei Angehörige der Sicherheitskräfte mussten sich vor Gericht für Folter und andere Misshandlungen im Zusammenhang mit den Maidan-Protesten verantworten. Es handelte sich dabei um Rekruten niedrigen Ranges aus einer dem Innenministerium unterstellten Einheit. Sie wurden am 28. Mai 2014 wegen “Überschreitung von Befugnissen oder Vollmachten” (Artikel 365 des Strafgesetzbuchs) zu Bewährungsstrafen von drei bzw. zwei Jahren verurteilt. Gegenstand des Verfahrens war die Misshandlung des Demonstranten Mykhaylo Havryliuk am 22. Januar 2014. Auf einem Video ist zu sehen, dass er bei Minusgraden gezwungen wurde, nackt vor Dutzenden von Sicherheitskräften des Innenministeriums und Angehörigen der Bereitschaftspolizei zu stehen. Viele von ihnen waren aktiv an seiner Demütigung beteiligt, indem sie ihn nötigten, für Fotos zu posieren, bevor er in einen Polizeitransporter gestoßen wurde.

In 20 Fällen exzessiver Polizeigewalt im Zusammenhang mit den Maidan-Protesten, denen Amnesty International nachging, äußerten die Opfer ihre Enttäuschung darüber, dass man ihre Vorwürfe nur schleppend oder überhaupt nicht untersuchte. Außerdem unternahmen die Behörden nicht genug, um die Schuldigen zu identifizieren, und die Staatsanwaltschaft setzte sich nicht mit den Opfern in Verbindung.

Der Europarat rief im April 2014 ein Internationales Beratergremium für die Ukraine ins Leben, um die Untersuchungen zu den Ereignissen auf dem Maidan zu kontrollieren. Ende 2014 lag noch kein abschließender Bericht des Gremiums vor.

Entführungen, Verschwindenlassen und Tötungen

Während der Proteste in Kiew von Ende 2013 bis Anfang 2014 “verschwanden” mehrere Dutzend Maidan-Aktivisten. Das Schicksal von mehr als 20 Personen war Ende 2014 immer noch nicht bekannt. Doch gab es Hinweise darauf, dass einige von ihnen entführt und misshandelt worden waren. Im Dezember 2014 gab das Büro des Generalstaatsanwalts bekannt, elf Männer, die der Entführung von Aktivisten verdächtigt wurden, seien festgenommen und einige weitere zur Fahndung ausgeschrieben worden. Keiner von ihnen gehörte den Sicherheitskräften an, auch wenn sie mutmaßlich auf Befehl leitender Polizeibeamter gehandelt hatten.

Am 21. Januar 2014 verschwanden Yury Verbytsky und Igor Lutsenko aus einem Krankenhaus. Igor Lutsenko berichtete später, die Entführer hätten ihm die Augen verbunden, ihn geschlagen und ihn bei eisiger Kälte in einem Wald ausgesetzt. Yury Verbytsky wurde tot im Wald aufgefunden. Seine Rippen waren gebrochen und an seinem Kopf fanden sich Reste von Klebeband.

Auf der russisch besetzten Krim und in den von Separatisten kontrollierten Gebieten der Ostukraine waren Entführungen und Misshandlungen von Gefangenen an der Tagesordnung und betrafen Hunderte von Menschen. Besonders gefährdet waren Vertreter lokaler Behörden, pro-ukrainische politische Aktivisten, Journalisten und internationale Beobachter. Am 23. April 2014 räumte der selbst ernannte “Volksbürgermeister” von Slawjansk, Wjatscheslaw Ponomarjow, bei einer Pressekonferenz ein, die Separatisten hätten mehrere Personen als “Verhandlungsmasse” in ihrer Gewalt. Später tauschten die Separatisten und die ukrainischen Behörden einige Hundert Gefangene aus. Andere Personen wurden wegen privater Lösegeldforderungen festgehalten. Der 19-jährige Pro-Kiew-Aktivist Sascha wurde am 12. Juni 2014 in Lugansk von einer bewaffneten Gruppe entführt. Er wurde 24 Stunden lang geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert, bevor er freigelassen wurde. Berichten zufolge soll sein Vater ein Lösegeld in Höhe von 60000 US-Dollar gezahlt haben.

Auch Angehörigen Kiew nahestehender Kräfte, vor allem sogenannter Freiwilligenbataillone, die Seite an Seite mit regulären ukrainischen Truppen im Donbass kämpften, wurden wiederholt Entführungen vorgeworfen. Zwischen Juni und August 2014 wurden in der Region Lugansk mehrere Menschenrechtsverstöße durch das Bataillon Aidar dokumentiert. Dazu zählten Entführungen einheimischer Männer, denen Kollaboration mit den Separatisten vorgeworfen wurde und die in provisorischen Hafteinrichtungen festgehalten wurden, bevor man sie freiließ oder den Sicherheitskräften übergab. In fast allen Fällen wurden die Gefangenen geschlagen. Die Angehörigen des Bataillons beschlagnahmten den Besitz der Gefangenen, darunter Autos und Wertgegenstände, und verlangten Lösegeld für die Freilassung.

Der Parlamentsabgeordnete Oleh Ljaschko veröffentlichte mehrere Videos im Internet, die ihn als Anführer einer Gruppe bewaffneter Männer mit Sturmhauben zeigen. Zu sehen ist, wie Personen, denen Kollaboration mit den Separatisten vorgeworfen wurde, festgenommen, verhört und misshandelt werden. Seine Aktionen zogen keine strafrechtlichen Konsequenzen nach sich. Bei den Wahlen im Oktober 2014 wurde Oleh Ljaschko erneut ins Parlament gewählt, seine Partei trat der Regierungskoalition bei.

Es gab Hinweise darauf, dass beide Konfliktparteien summarische Tötungen verübten. Mehrere Befehlshaber der Separatisten prahlten mit der Tötung von Gefangenen wegen angeblicher Verbrechen, und die De-facto-Führung der Separatisten führte die “Todesstrafe” in ihr “Strafgesetzbuch” ein.

Gewaltsame Zusammenstöße

Vor dem Hintergrund wachsender Spannungen im ganzen Land kam es in mehreren Städten zu Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung, die auf Wiktor Janukowytsch folgte. Die Polizei versäumte es häufig, einzugreifen und gewaltsame Ausschreitungen zu verhindern.

Am 2. Mai 2014 wurden in Odessa 48 Gegner der Maidan-Proteste getötet und mehr als 200 verletzt. Sie befanden sich in einem brennenden Gebäude, das von Anhängern der Maidan-Proteste im Zuge gewaltsamer Auseinandersetzungen belagert wurde. Die Polizei ergriff keine wirksamen Maßnahmen, um die Gewalt zu verhindern oder einzudämmen. Es wurden mehrere strafrechtliche Verfahren bezüglich des Vorfalls eingeleitet. Im November 2014 begann der Prozess in einem Fall, der mit den Ereignissen in Zusammenhang stand. Angeklagt waren 21 pro-russische Aktivisten, denen Massenkrawalle sowie unerlaubter Einsatz von Schusswaffen und Sprengstoff vorgeworfen wurden. Die offiziellen Untersuchungen waren von Geheimhaltung geprägt, was Befürchtungen aufkommen ließ, sie könnten uneffektiv und parteiisch sein.

Bewaffneter Konflikt

Bis Ende 2014 waren im Zuge des Konflikts in der Ostukraine mehr als 4000 Menschen getötet worden. Zahlreiche Zivilpersonen starben durch wahllosen Beschuss von Wohngebieten, insbesondere durch den Einsatz von ungelenkten Raketen und Mörsergranaten.

Beide Seiten verstießen gegen das Kriegsrecht, weil sie keine angemessenen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen; beide installierten Truppen, Waffenlager und andere militärische Ziele in Wohngebieten. Bei zahlreichen Gelegenheiten nutzten Separatisten bewohnte Gebiete und Wohnhäuser für Gefechtsstände, und Kiew nahestehende Kräfte erwiderten das Feuer und zielten auf diese Stellungen. Es gab keine Anhaltspunkte dafür, dass die Konfliktparteien mutmaßliche Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und mögliche Kriegsverbrechen, die ihre eigene Seite verübte, gründlich untersuchten.

Am 17. Juli 2014 meldeten die Separatisten die Zerstörung eines ukrainischen Militärflugzeugs. Als sich herausstellte, dass ein ziviles Passagierflugzeug der Malaysia Airlines abgeschossen worden war und dabei fast 300 Personen ums Leben gekommen waren, wurde die Meldung zurückgezogen, und beide Seiten machten sich gegenseitig für den Abschuss verantwortlich. Eine internationale Untersuchung des Vorfalls war Ende 2014 noch nicht abgeschlossen.

Vertriebene

Rund 20000 Menschen, die wegen der russischen Besetzung der Krim geflohen waren, erhielten staatliche Hilfen zur Umsiedlung in andere Regionen. Durch den Konflikt in der Ostukraine wurden Schätzungen zufolge fast eine Million Menschen vertrieben. Etwa die Hälfte von ihnen blieb im Land, die übrigen gingen überwiegend nach Russland. Die Binnenvertriebenen in der Ukraine erhielten zumeist eine begrenzte staatliche Unterstützung und waren ansonsten auf eigene Mittel, familiäre Netzwerke und die Hilfe von Freiwilligenorganisationen angewiesen. Im Oktober 2014 wurde ein Gesetz zu Binnenvertriebenen verabschiedet, das ihre Lage jedoch bis zum Jahresende noch nicht merklich verbessert hatte.

Krim

Nach der Annexion der Krim im März 2014 fanden dort russische Gesetze Anwendung, die das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unterdrückten. Zivilgesellschaftliche Organisationen mussten ihre Arbeit einstellen, weil sie die rechtlichen Anforderungen Russlands nicht erfüllten. Die einheimische Bevölkerung wurde zu russischen Staatsbürgern erklärt. Wer die ukrainische Staatsbürgerschaft behalten wollte, musste die Behörden darüber informieren.

Die selbsternannten paramilitärischen “Selbstverteidigungskräfte” begingen zahlreiche schwerwiegende Menschenrechtsverstöße wie Verschwindenlassen, ohne dafür strafrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Der De-facto-Ministerpräsident der Krim, Sergei Aksjonow, erklärte, die paramilitärischen Kräfte hätten zwar keinen offiziellen Status und keine entsprechenden Befugnisse, seine Regierung sei jedoch auf sie angewiesen und würde deshalb über ihre Verstöße “gelegentlich hinwegsehen”.

Es gab zahlreiche Berichte über Entführungen pro-ukrainischer Aktivisten auf der Krim. Am 9. März 2014 wurden die Maidan-Aktivistinnen Oleksandra Ryazantseva und Kateryna Butko entführt, nachdem sie an einem Kontrollpunkt angehalten worden waren, der Berichten zufolge mit Bereitschaftspolizisten und “Selbstverteidigungskräften” besetzt war, die Schusswaffen und Messer trugen. Sie wurden am 12. März freigelassen.

Am 9. Mai 2014 wurde der bekannte pro-ukrainische Aktivist und Filmregisseur Oleg Sentsov auf der Krim von russischen Sicherheitskräften heimlich festgenommen und gemeinsam mit weiteren Personen rechtswidrig nach Moskau gebracht. Die strafrechtlichen Maßnahmen gegen ihn, die auf haltlosen Terrorismusvorwürfen basierten, fanden im Geheimen statt. Die von ihm vorgebrachten Foltervorwürfe wurden von den Behörden zurückgewiesen.

Die Krimtataren wurden von den De-facto-Behörden besonders ins Visier genommen, wenn sie öffentlich pro-ukrainische Ansichten äußerten. Die ursprünglich auf der Krim beheimatete ethnische Gruppe war 1944 in entlegene Gebiete der Sowjetunion deportiert worden und durfte erst Ende der 1980er Jahre zurückkehren. Von März 2014 an gab es mehrfach Berichte, dass Krimtataren entführt oder verprügelt worden seien. Die Fälle wurden von den De-facto-Behörden jedoch nicht untersucht.

Am 3. März 2014 wurde der Krimtatar Reshat Ametov von drei Männern der “Selbstverteidigungskräfte” abgeführt, als er allein vor dem Gebäude des Ministerrats der Krim in der Regionalhauptstadt Simferopol protestiert hatte. Fast zwei Wochen später wurde seine Leiche gefunden, die Folterspuren aufwies. Seine Entführer wurden nicht ausfindig gemacht.

Die De-facto-Behörden starteten eine Kampagne zur Abschaffung der von der Volksversammlung der Tataren (Kurultai) gewählten Vertretung, des Medschlis, der von den ukrainischen Behörden als repräsentatives Organ der Tataren anerkannt wird.

Mustafa Dzhemiliev, ein langjähriger Menschenrechtsverteidiger und Gründer des Medschlis, wurde mit einem Einreiseverbot für die Krim belegt. Ihm wurde wiederholt die Einreise verweigert, u.a. am 3. Mai 2014, als er über einen Kontrollpunkt bei Armjansk einzureisen versuchte. Hunderte von Krimtataren kamen, um ihn zu sehen. Die De-facto-Behörden erklärten, es handele sich um eine rechtswidrige Versammlung, Dutzende Teilnehmer wurden mit einer Geldbuße belegt. Anschließend wurden die Häuser mehrerer Sprecher der Krimtataren durchsucht. Mindestens vier Krimtataren wurden festgenommen, wegen “Extremismus” angeklagt und zu Ermittlungszwecken nach Russland gebracht.

Am 5. Juli 2014 wurde auch Refat Chubarov, der Nachfolger von Mustafa Dzhemiliev als Vorsitzender des Medschlis, die Rückkehr auf die Krim für fünf Jahre verboten. Der neu ernannte De-facto-Staatsanwalt der Krim reiste zum Grenzübergang und wies ihn darauf hin, dass die Aktivitäten des Medschlis nach dem russischen Gesetz gegen Extremismus nicht erlaubt seien. Am 19. September 2014 konfiszierten die russischen Behörden das Büro des Medschlis mit der Begründung, sein Gründer Mustafa Dzhemiliev sei ein ausländischer Staatsbürger, dem die Einreise nach Russland untersagt worden sei.

Am 16. Mai 2014, nur zwei Tage vor den geplanten Veranstaltungen zum 70. Jahrestag der Deportation der Krimtataren 1944, gab der De-facto-Ministerpräsident der Krim bekannt, dass alle Massenversammlungen auf der Krim bis zum 6. Juni untersagt seien, um “mögliche Provokationen durch Extremisten” sowie eine “Störung der Sommerferiensaison” zu verhindern. Am Jahrestag der Deportation war lediglich eine Gedenkveranstaltung der Krimtataren am Rande von Simferopol erlaubt, die von einem starken Polizeiaufgebot begleitet wurde.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen

Eine für den 5. Juli 2014 geplante Pride Parade von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen in Kiew wurde abgesagt, nachdem die Polizei dem Organisationskomitee mitgeteilt hatte, die Sicherheit der Teilnehmer könne angesichts der zu erwartenden Gegendemonstrationen nicht gewährleistet werden. Der neu gewählte Bürgermeister von Kiew, Witali Klitschko, erklärte am 27. Juni, solche “Unterhaltungsveranstaltungen” seien zu diesem Zeitpunkt in der Ukraine fehl am Platz.


Amnesty Report 2013 – Ukraine

Amtliche Bezeichnung: Ukraine

Staatsoberhaupt: Wiktor Janukowytsch
Regierungschef: Mykola Asarow

Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor weit verbreitet und wurden nicht geahndet. Mängel im Strafrechtssystem führten zu überlangen Untersuchungshaftzeiten und fehlendem Schutz von Häftlingen. Flüchtlinge und Asylsuchende wurden inhaftiert und in Länder abgeschoben, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohten. Die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen waren in Gefahr.

Folter und andere Misshandlungen

Es gingen weiterhin Meldungen über Folter und andere Misshandlungen in Polizeigewahrsam ein. Im November 2012 veröffentlichte der Ausschuss des Europarats zur Verhütung von Folter seinen Bericht über einen Besuch der Ukraine im Jahr 2011. Darin hieß es, die Delegation sei “überschwemmt worden” mit Beschwerden inhaftierter Personen, die Opfer physischer und psychischer Misshandlung durch die Polizei geworden waren. Als “besonders problematisch” hob der Bericht die Polizeiwache des Kiewer Bezirks Shevchenkivskiy hervor.

Am 18. September 2012 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, wonach das Amt der parlamentarischen Menschenrechtsbeauftragten die Funktionen eines Nationalen Präventionsmechanismus übernehmen soll. Die Ukraine kam damit ihren Verpflichtungen gemäß dem Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe nach.

Am 17. Juni 2012 wurde Mikhail Belikov von Beamten der Polizeiwache des Bezirks Petrovskiy in Donezk gefoltert. Der Bergarbeiter im Ruhestand war von drei Polizisten in einem Park wegen Trinkens in der Öffentlichkeit aufgegriffen worden. Er gab an, die Polizisten hätten ihn im Park geschlagen und dann auf eine Nebenstelle des Polizeireviers von Petrovskiy gebracht. Dort hätten ihn drei Polizisten festgehalten, während ihn ein vierter mit einem Polizeiknüppel vergewaltigte. Ein höherer Beamter sagte ihm, er solle vergessen, was passiert sei, und forderte ihn auf, 1500 Hrywnja (144 Euro) für seine Freilassung zu zahlen. Mikhail Belikov erklärte sich bereit, den Betrag zu zahlen, und wurde ohne Anzeige freigelassen. In der folgenden Nacht verschlechterte sich sein Zustand erheblich. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, wo die Ärzte schwere innere Verletzungen feststellten, die einen vorübergehenden künstlichen Darmausgang erforderlich machten. Ende 2012 standen drei Polizeibeamte wegen fünf Fällen von Misshandlung und Erpressung vor Gericht, die bis ins Jahr 2009 zurückreichten. Die Folterung von Mikhail Belikov war einer der fünf Fälle. Zwei der Beamten waren nach Artikel 127 des Strafgesetzbuchs wegen Folter angeklagt.

Straflosigkeit

Im Oktober 2012 schlug der UN-Menschenrechtsrat der Ukraine im Zuge der Universellen Regelmäßigen Überprüfung vor, ein unabhängiges Gremium einzurichten, um Folterfälle zu untersuchen und zu gewährleisten, dass Opfer entschädigt werden. Bis zum Jahresende hatte die Regierung weder auf diese noch auf 145 weitere Empfehlungen reagiert, die der UN-Menschenrechtsrat im Rahmen der Überprüfung gegeben hatte. Für die Opfer von Folter und anderen Misshandlungen war es weiterhin schwierig, eine Untersuchung ihrer Beschwerden zu erreichen. Die von den Gerichten verhängten Strafen standen häufig in keinem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat.

Am 5. Januar 2012 wurde der Polizeibeamte Serhiy Prikhodko zu einer fünfjährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Er war wegen Amtsmissbrauch im Fall von Ihor Indilo angeklagt, der im Mai 2010 in Gewahrsam auf der Polizeistation Shevchenkivskiy in Kiew gestorben war. Ein zweiter Polizeibeamter, Serhiy Kovalenko, war im Dezember 2011 begnadigt worden. Zur Begründung hieß es, er habe ein kleines Kind. Am 14. Mai 2012 hob das Berufungsgericht Kiew sowohl die Bewährungsstrafe als auch die Begnadigung auf und forderte weitere Ermittlungen in dem Fall. Am 29. Oktober ordnete das Berufungsgericht Kiew erneut weitere Untersuchungen an.

Am 23. März 2012 wurde Ihor Zavadskiy, ein bekannter Akkordeonspieler, in Kiew festgenommen und von Polizeibeamten gefoltert und anderweitig misshandelt. Er gab an, vor seinem Haus von einer Gruppe Polizeibeamter in Zivil zu Boden geworfen und geschlagen worden zu sein. Die Beamten hätten ihn durchsucht, ihm sein Mobiltelefon abgenommen und seine Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl durchsucht. Anschließend wurde er auf der Polizeistation des Kiewer Bezirks Shevchenkivskiy weiter gefoltert und misshandelt. Drei Beamte schlugen ihn, und einer von ihnen quetschte ihm auf äußerst schmerzvolle Weise seine Hoden. Als man ihn zu Boden stieß, schlug er mit dem Kopf auf und verlor das Bewusstsein. Die Polizeibeamten bestanden darauf, ihn ohne Anwalt zu verhören. Erst am 27. März konnte er einen Anwalt sprechen. Er wurde wegen “gewaltsamer, unnatürlicher Befriedigung sexuellen Verlangens” und “ausschweifendem Verhalten gegenüber Minderjährigen” angeklagt. Am 2. April reichte er beim Bezirksstaatsanwalt Klage wegen Folter und Misshandlung ein. Er wurde erst am 3. Juli darüber informiert, dass man am 6. April entschieden hatte, keine strafrechtliche Untersuchung der Foltervorwürfe einzuleiten. Am 31. Juli hob das Bezirksgericht Shevchenkivskiy die Entscheidung des Staatsanwalts auf und ordnete neue Untersuchungen in dem Fall an. Ende 2012 lagen keine Informationen über den Stand der Untersuchungen vor. Das Verfahren gegen Ihor Zavadskiy dauerte noch an.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Die Ukraine verstieß weiterhin gegen ihre internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention, indem sie Auslieferungsanträgen nachkam, die sich auf Personen bezogen, die anerkannte Flüchtlinge oder Asylsuchende waren.

Am 20. September 2012 lieferten die ukrainischen Behörden Ruslan Suleymanov an Usbekistan aus. Sie verstießen damit gegen die Verpflichtungen der Ukraine als Vertragsstaat des UN-Übereinkommens gegen Folter und der Genfer Flüchtlingskonvention. Ende 2012 befand sich Ruslan Suleymanov noch immer in Untersuchungshaft in der usbekischen Hauptstadt Taschkent. Er war im November 2010 in die Ukraine gezogen, weil er in Usbekistan einen unfairen Gerichtsprozess, Folter und andere Misshandlungen befürchtete, nachdem das Bauunternehmen, für das er gearbeitet hatte, ins Visier konkurrierender Firmen geraten war. Am 25. Februar 2011 war er in der Ukraine festgenommen worden. Im Mai 2011 hatte die Generalstaatsanwaltschaft seine Auslieferung nach Usbekistan bestätigt, wo er sich wegen angeblicher Wirtschaftsdelikte vor Gericht verantworten sollte. Sein Asylantrag war in der Ukraine zwar abgelehnt worden, doch hatte ihn das Amt des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) als Flüchtling anerkannt und sich um seine Ansiedlung in einem Drittland bemüht.

Am 19. Oktober 2012 wurde der russische Staatsbürger Leonid Razvozzhayev, ein Berater des oppositionellen russischen Parlamentariers Ilya Ponomaryov, Berichten zufolge vor dem Büro der jüdischen Hilfsorganisation Hebrew Immigration Aid Society in Kiew von russischen Polizeikräften entführt. Er wollte sich von der Organisation wegen eines Asylantrags in der Ukraine rechtlich beraten lassen. Am 22. Oktober teilte Leonid Razvozzhayev mit, er sei nach seiner Rückkehr nach Russland gefoltert und anderweitig misshandelt worden. Man habe ihn auf diese Weise zu dem “Geständnis” zwingen wollen, dass er gemeinsam mit anderen oppositionellen Aktivisten Massenunruhen geplant habe. Am 25. Oktober bestätigte ein Sprecher des ukrainischen Innenministeriums, dass Leonid Razvozzhayev von “Ordnungskräften oder ausländischen Ordnungskräften” entführt worden sei. Es handele sich dabei jedoch nicht um eine Strafsache, sondern um eine Angelegenheit der “Zusammenarbeit von Vollzugsbehörden”, über die er nichts wisse.

Im Juni 2012 stellte der UNHCR fest, dass trotz des neuen Flüchtlingsgesetzes von 2011 Verfahren und Gesetzgebung noch immer nicht internationalen Standards entsprachen. Dies galt insbesondere für Asylsuchende, die in vielen Fällen keine Ausweisdokumente hatten. Ihnen drohte wegen illegalen Aufenthalts auf ukrainischem Gebiet eine Inhaftierung von bis zu einem Jahr.

Im Januar 2012 traten 81 Personen in zwei Aufnahmezentren für Migranten aus Protest gegen ihre Inhaftierung in den Hungerstreik. Dabei handelte es sich überwiegend um somalische Staatsbürger. Sie waren im Zuge einer Polizeiaktion zur Kontrolle “illegaler Einwanderung” Ende Dezember 2011 festgenommen worden und sollten “zum Zweck der Abschiebung” bis zu zwölf Monate lang inhaftiert bleiben. Bis dato hatte die Ukraine jedoch noch keine somalischen Staatsbürger in ihr Heimatland abgeschoben. Abschiebungen nach Somalia wären auch nur unter außergewöhnlichen Umständen zulässig gewesen. Mindestens ein Häftling war beim UNHCR als Asylsuchender registriert; viele weitere hatten jedoch kein Asyl beantragen können, da die regionalen Migrationsämter in vielen Teilen der Ukraine ihre Arbeit 2011 zum großen Teil eingestellt hatten. Die Häftlinge beendeten ihren Hungerstreik am 17. Februar, nachdem ihnen die staatliche Migrationsbehörde versichert hatte, die regionalen Ämter im Distrikt Wolyn im Westen der Ukraine würden wieder öffnen und Anträge auf den Flüchtlingsstatus und entsprechenden Schutz entgegennehmen. Bis November wurden 53 Häftlinge freigelassen.

Justizwesen

Der Präsident unterzeichnete am 14. Mai 2012 eine neue Strafprozessordnung, die eine deutliche Verbesserung gegenüber der vorherigen darstellt. In ihr ist klar formuliert, dass eine Haft im Augenblick der Festnahme durch die Polizei beginnt und Häftlinge von diesem Moment an Anspruch auf einen Anwalt und einen unabhängigen medizinischen Experten haben. Sie legt außerdem eindeutig fest, dass Untersuchungshaft nur bei außergewöhnlichen Umständen angeordnet werden soll, entsprechend den Empfehlungen des Europarats. Außerdem ist vorgesehen, dass alle zwei Monate automatisch geprüft wird, ob die Untersuchungshaft weiterhin gerechtfertigt erscheint. Anlass zu Bedenken gab, dass ein Anwalt nur bei besonders schweren Delikten, die mit einer Gefängnisstrafe von mehr als zehn Jahren geahndet werden können, Pflicht ist. Prozesskostenhilfe ist ebenfalls nur in diesen Fällen vorgesehen.

Am 27. Februar 2012 wurde der ehemalige Innenminister und Vorsitzende der Oppositionspartei Selbstverteidigung des Volkes, Jurij Lutsenko, wegen Amtsmissbrauchs und Aneignung staatlichen Vermögens zu vier Jahren Haft und einer Geldstrafe von 643982 Hrywnja (61621 Euro) verurteilt. Jurij Lutsenko befand sich seit dem 26. Dezember 2010 in Untersuchungshaft. Am 3. Juli entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die Untersuchungshaft habe Jurij Lutsenkos Recht auf Freiheit verletzt und verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, weil sie politisch motiviert sei. Am 17. August wurde Jurij Lutsenko von einem ukrainischen Gericht außerdem wegen Vernachlässigung beruflicher Sorgfaltspflichten schuldig gesprochen, weil er während der Untersuchung der Vergiftung des ehemaligen Präsidenten Juschtschenko die illegale Überwachung eines Fahrers angeordnet habe. Sein Strafmaß blieb unverändert.

Im April 2012 sollte ein neues Verfahren gegen die ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko wegen Steuerhinterziehung beginnen, das jedoch aus gesundheitlichen Gründen verschoben wurde. Die neuen Anklagen, die im Oktober 2011 erhoben worden waren, bezogen sich auf ihre Tätigkeit als Generaldirektorin des Energiekonzerns EESU im Zeitraum von 1995 bis 1997. Julija Tymoschenko verbüßte 2012 weiterhin ihre siebenjährige Haftstrafe, die nach politisch motivierten Anklagen gegen sie verhängt worden war. Sie war wegen angeblichen Amtsmissbrauchs schuldig gesprochen worden im Zusammenhang mit einem Gasvertrag in Höhe von mehreren Millionen US-Dollar, den sie als Ministerpräsidentin im Januar 2009 mit Russland abgeschlossen hatte.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen

Im Oktober 2012 verabschiedete das Parlament in zweiter Lesung den Gesetzentwurf “Zur Verbesserung einiger Gesetze (zum Schutz des Rechts von Kindern auf einen ungefährlichen Informationsraum)”. Das Gesetz sieht ein Verbot der Herstellung, Einführung und Verbreitung von Publikationen, Filmen und Videos vor, die für Homosexualität werben. Sollte das Gesetz in Kraft treten, würde damit das Recht auf freie Meinungsäußerung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen drastisch beschnitten.

Am 20. Mai 2012 wurde die Gay Pride Parade in Kiew nur 30 Minuten vor dem Start abgesagt, nachdem die Polizei gewarnt hatte, dass zahlreiche nationalistische und religiöse Protestierende gedroht hätten, die Parade aufzuhalten. Ein Mitglied des Organisationsteams wurde von einer Bande Jugendlicher verprügelt, ein weiteres mit Tränengas besprüht.

Internationale Strafverfolgung

Die Regierung teilte am 24. Oktober 2012 mit, die Ukraine fühle sich weiterhin der Idee eines Internationalen Strafgerichtshofs verpflichtet. Die erforderlichen Gesetzesänderungen zur Umsetzung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs und des Übereinkommens über die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen, dem die Ukraine am 20. Januar 2000 bzw. am 29. Januar 2007 beigetreten war, wurde jedoch nicht in die Wege geleitet.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Delegierte von Amnesty International besuchten die Ukraine im April, Mai, Juni, Juli, August und September.


Amnesty Report 2012 – Ukraine

Amtliche Bezeichnung: Ukraine

Staatsoberhaupt: Wiktor Janukowytsch
Regierungschef: Mykola Asarow
Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft
Einwohner: 45,2 Mio.
Lebenserwartung: 68,5 Jahre
Kindersterblichkeit: 15,1 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 99,7%

Folter und andere Misshandlungen wurden nach wie vor nicht geahndet. Trotz einer Justizreform gelang es nicht, die Unabhängigkeit der Justiz zu verbessern. Die Rechtsstaatlichkeit wurde untergraben, indem das Strafrechtssystem zu politischen Zwecken benutzt wurde. Asylsuchende waren von Abschiebungen bedroht und hatten keinen Zugang zu einem fairen Asylverfahren. Menschenrechtsverteidiger mussten wegen ihrer Arbeit Strafverfolgung und tätliche Angriffe befürchten.

Folter und andere Misshandlungen

Es gab weiterhin Meldungen über Folter und andere Misshandlungen in Polizeigewahrsam. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fällte neun Urteile gegen die Ukraine wegen Verstoßes gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der ein Verbot der Folter vorsieht.

Firdovsi Safarov, ein ukrainischer Staatsbürger aserbaidschanischer Herkunft, teilte Amnesty International mit, er sei am 26. März 2011 von sechs Polizeibeamten der Polizeiwache in Mohiliov Podilsky geschlagen worden. Die Polizei habe ihn angehalten, als er einen alten Wagen zum Schrottplatz fuhr. Er erhielt Schläge auf den Kopf und war rassistischen Beschimpfungen ausgesetzt. Auf der Polizeistation wurde er vom Leiter der Wache und anderen Beamten immer wieder geschlagen, bis man ihn gegen ein Uhr morgens freiließ. Nach Angaben von Firdovsi Safarov forderte man ihn auf, für seine Freilassung 3000 US-Dollar zu zahlen. Er wurde später wegen Widerstands gegen Polizeibeamte angeklagt, jedoch am 25. Juni freigesprochen. Firdovsi Safarov reichte Klage wegen Misshandlungen ein. Nachdem die Klage zunächst zweimal abgewiesen wurde, leitete die Staatsanwaltschaft im Juli Ermittlungen ein. Trotz der laufenden Ermittlungen war der Leiter der Polizeistation Ende 2011 noch immer im Amt. Im Oktober wurde Firdovsi Safarov wegen der erlittenen Verletzungen erneut ins Krankenhaus eingewiesen, doch wurde seine Behandlung bereits nach kurzer Zeit abgebrochen. Berichten zufolge hatten Polizeibeamte entsprechenden Druck auf die behandelnden Ärzte ausgeübt.

Straflosigkeit

In Bezug auf Straftaten, die von der Polizei begangen wurden, herrschte nach wie vor ein Klima der Straflosigkeit. Ermittlungen blieben aus oder waren mangelhaft, selbst in Fällen, in denen medizinische oder andere glaubwürdige Beweise vorlagen. Auch strukturelle Defizite, Korruption sowie die Schikanierung und Einschüchterung von Klägern führten dazu, dass kaum Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet und Polizisten nicht ausreichend zur Verantwortung gezogen wurden.

Zahlreiche Beschwerdeklagen gegen die Polizei wurden bereits in erster Instanz abgewiesen. Im Juli erklärte die Generalstaatsanwaltschaft, dass von den 6817 Klagen gegen Angehörige der Polizei im Jahr 2010 nur 167 zu strafrechtlichen Ermittlungen führten, von denen anschließend 21 aus Mangel an Beweisen eingestellt wurden.

Am 17. August 2011 entschied das Berufungsgericht Kiew, dass im Fall des 19-jährigen Studenten Ihor Indilo, der 2010 in Polizeigewahrsam gestorben war, keine weiteren Ermittlungen erforderlich seien. Damit hielt das Gericht die Erklärung der Polizei für glaubwürdig, die tödliche Kopfverletzung des Studenten sei darauf zurückzuführen, dass er in seiner Zelle von einer 50cm hohen Bank gefallen sei. Im Oktober gab der Generalstaatsanwalt bekannt, er habe eine weitere Untersuchung des Todesfalls angeordnet.

Am 24. Oktober gab die Staatsanwaltschaft Kiew bekannt, dass eine Untersuchung im Fall von Alexander Rafalsky eingeleitet wurde. Dieser hatte ausdauernd und hartnäckig den Vorwurf erhoben, man habe ihn im Juni 2001 gefoltert, um ein Mordgeständnis zu erpressen. Im Jahr 2004 war er zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Staatsanwälte hatten sich bislang stets geweigert, seinen Beschuldigungen nachzugehen.

Justizwesen

Die Reform des Justizwesens dauerte 2011 an. Im Juli wurde dem Parlament der Entwurf für eine neue Strafprozessordnung vorgelegt, der zum Jahresende aber noch nicht verabschiedet worden war.

Die Unabhängigkeit der Richter war gefährdet, da die Generalstaatsanwaltschaft nach wie vor die Befugnis zur Strafverfolgung von Richtern hatte und dadurch Druck ausüben konnte. Am 7. Juni bat der stellvertretende Generalstaatsanwalt um die Entlassung von drei Richtern am Berufungsgericht Kiew. Sie hatten den Antrag eines Staatsanwalts auf Inhaftierung eines Verdächtigen abgelehnt, weil es dazu ihrer Ansicht nach keinen Anlass gab.

Im Oktober wurden Änderungen zum Gesetz über das Justizwesen und den Status von Richtern verabschiedet. Die Änderungen erfolgten aufgrund kritischer Kommentare zu dem 2010 verabschiedeten Gesetz, das u.a. die Funktion des Obersten Gerichtshofs drastisch eingeschränkt hatte.

Mit den Gesetzesänderungen wurde die Funktion des Obersten Gerichtshofs nur teilweise wiederhergestellt. Im Oktober kritisierte der Europarat die Rolle des Parlaments bei der Ernennung und Entlassung von Richtern. Das Gremium sah die Unabhängigkeit von Richtern gefährdet, da sie vor ihrer Ernennung auf Lebenszeit zunächst nur eine vorläufige Ernennung für fünf Jahre erhielten. Der Europarat empfahl, diese Richter nicht mit “wichtigen Fällen mit großer politischer Tragweite” zu betrauen.

Am 11. Oktober 2011 wurde Julia Timoschenko, die von Januar bis September 2005 sowie von Dezember 2007 bis März 2010 ukrainische Ministerpräsidentin war, von einem Gericht in Kiew zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Außerdem darf sie nach ihrer Haftstrafe drei Jahre lang kein öffentliches Amt ausüben. Julia Timoschenko wurde vorgeworfen, im Januar 2009 einen Gasvertrag mit Russland in Höhe von mehreren Millionen US-Dollar abgeschlossen zu haben. Bei den Anklagepunkten gegen sie handelte es sich nicht um anerkannte Straftatbestände, sie waren vielmehr politisch motiviert. Der für ihren Fall zuständige Richter hatte einen befristeten Vertrag.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Am 8. Juli 2011 verabschiedete die Ukraine ein neues Gesetz zu “Flüchtlingen und Personen, die komplementären Schutz benötigen”. Das Gesetz verbesserte den Status von Flüchtlingen und machte es für Asylsuchende einfacher, Dokumente zu erhalten. Außerdem wurde für Personen, die nicht genau unter die Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention fallen, das Konzept des komplementären Schutzes eingeführt. Dennoch blieb das Gesetz hinter internationalen Standards zurück, da es im Falle von internationalen oder internen bewaffneten Konflikten keinen komplementären Schutzbedarf vorsieht. Das Amt des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) kritisierte das neue Gesetz, da es ihm keinen Zugang zu den betreffenden Personen und keine beratende Rolle bei der Bestimmung des Flüchtlingsstatus einräumt.

Im Dezember 2010 war eine neue Migrationsbehörde geschaffen worden, die dem Innenministerium unterstand. Die regionalen Migrationsämter stellten ihre Arbeit im Oktober ein, und Ende 2011 war das neue System funktionsfähig. Für Asylsuchende bestand die Gefahr, in Länder abgeschoben zu werden, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten.

Im März wurde eine Gruppe von zehn afghanischen Staatsbürgern, zu der auch ein Kind zählte, nach Afghanistan abgeschoben. Die Asylanträge einiger von ihnen waren abgelehnt worden. Sie erhielten keinerlei Möglichkeit, Rechtsmittel gegen die Ablehnung oder ihre Abschiebung einzulegen. Die Gruppe erhob den Vorwurf, bei der Beantragung des Asyls und während des Abschiebeprozesses hätten keine Dolmetscher zur Verfügung gestanden. Außerdem hätten sie Dokumente in einer fremden Sprache unterzeichnen müssen, die sie nicht verstanden hätten. Am 17. März erklärte der staatliche Grenzschutz gegenüber regionalen Medien, man habe gegen die Männer Gewalt eingesetzt, weil sie sich der Abschiebung widersetzt hätten.

Menschenrechtsverteidiger

Menschenrechtsverteidiger, die Korruption und Menschenrechtsverletzungen durch lokale Staatsbedienstete und Polizisten aufdeckten, waren tätlichen Angriffen und strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt, die zum Ziel hatten, sie zum Schweigen zu bringen.

Am 12. Januar wurde Dmytro Groysman, der Vorsitzende der Menschenrechtsgruppe von Winnyzja, wegen Verunglimpfung der ukrainischen Flagge sowie der Verbreitung von Pornografie angeklagt, weil er in seinem Weblog freizügiges satirisches Video- und Bildmaterial veröffentlicht hatte. Zum Jahresende war das Verfahren noch nicht abgeschlossen. Dmytro Groysman befand sich gegen Zahlung einer Kaution auf freiem Fuß. Die Verwendung entsprechender Bilder in diesem Kontext fiel nach internationalem Recht in den Bereich der zulässigen öffentlichen Meinungsäußerung. Obwohl das fragliche Video bereits durch verschiedene Webseiten große öffentliche Verbreitung gefunden hatte, wurde Dmytro Groysman als Einziger dafür zur Rechenschaft gezogen. Dies gab Anlass zu der Vermutung, dass die Anklage im Zusammenhang mit seinem Engagement für die Menschenrechte stand.

Am 28. August 2011 wurde Andrei Fedosov Berichten zufolge wegen seiner Bemühungen, Korruption und Menschenrechtsverletzungen in psychiatrischen Kliniken aufzudecken, Opfer eines brutalen Angriffs. Der Leiter der Organisation Yuzer, die sich für die Rechte psychiatrischer Patienten einsetzt, war von einem Unbekannten gebeten worden, in das Dorf Mirny auf der Krim zu kommen, weil dort angeblich ein psychiatrischer Patient seine Hilfe benötigte. Dort wurde er in eine Wohnung gebracht und gefoltert. Nach seiner Freilassung rief er sofort die Polizei an. Er konnte seinen Angreifer auf der Dorfstraße identifizieren. Die Polizei brachte Andrei Fedosov und den Angreifer auf die örtliche Polizeiwache. Angreifer und Polizei schienen miteinander bekannt zu sein. Andrei Fedosov meldete die Straftat, hinterließ seine Reisepassdaten und verließ die Wache. Draußen telefonierte er kurz mit einem Freund, wurde dann aber wegen Zurschaustellung “unangemessenen Verhaltens” wieder von der Polizei festgenommen. Die Polizei brachte ihn zu einer Untersuchung in eine psychiatrische Klinik und schlug ihm auf den Kopf, als er nach dem Grund fragte. In der Klinik angekommen, wurde er von den anwesenden Ärzten freigelassen. Der Übergriff wurde von den Behörden nicht untersucht, und Andrei Fedosov hatte große Probleme, seine Verletzungen zu dokumentieren. Obwohl er sich um entsprechende Nachweise bemühte, wurden seine Verletzungen von Ärzten in der nahe gelegenen Stadt Jewpatorija und in Kiew nicht ernst genommen.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Delegierte von Amnesty International besuchten die Ukraine im März, April und Oktober.


Amnesty Report 2011 – Ukraine

Amtliche Bezeichnung: Ukraine

Staatsoberhaupt: Wiktor Janukowytsch (löste im Februar Wiktor Juschtschenko im Amt ab)
Regierungschef: Mykola Asarow (löste im März Juljia Tymoschenko im Amt ab)
Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft
Einwohner: 45,4 Mio.
Lebenserwartung: 68,6 Jahre
Kindersterblichkeit (m/w): 18/13 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 99,7%

Es gab 2010 Meldungen über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und in Polizeigewahrsam. Häftlinge und Tatverdächtige erhielten keine ausreichende medizinische Versorgung. Menschenrechtsverteidiger wurden angegriffen und von Beamten mit Polizeibefugnissen drangsaliert. Flüchtlinge und Asylsuchende waren von Zwangsrückführungen und anderen Menschenrechtsverletzungen bedroht. Die Polizei diskriminierte ethnische Minderheiten. Friedliche Demonstrierende wurden Opfer von Festnahmen und Gewalt.

Folter und andere Misshandlungen

Im Berichtsjahr gab es erneut Meldungen über Folter und andere Misshandlungen in Polizeigewahrsam. Im März wurde die Abteilung für Menschenrechte des Innenministeriums, die für die Überwachung der Polizeihaft zuständig war, geschlossen und durch eine kleinere Abteilung ohne Kontrollauftrag ersetzt.

Am 1. Juli 2010 kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Urteil, dass einige Häftlinge Opfer von Folter und anderen Misshandlungen geworden seien. Die Häftlinge waren im Gefängnis Zamkova in der Region Khmelnitskiy bei zwei Vorfällen in den Jahren 2001 und 2002 geschlagen worden. Die Schläge wurden während einer Fortbildung für die schnelle Eingreiftruppe erteilt, eine Spezialeinheit von Gefängniswärtern, die bei Unruhen in Haftanstalten zum Einsatz kommt.

Am 1. Juli 2010 wurden Häftlinge im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 von Winnyzja dem Vernehmen nach von Angehörigen der schnellen Eingreiftruppe misshandelt, weil sie gegen die Misshandlung einer Gruppe von Gefangenen am Vortag protestiert hatten. Angehörige der Häftlinge erstatteten über die Vorfälle an diesen beiden Tagen Bericht. Demnach sollte am 30. Juni eine Gruppe von 15 Gefangenen vor Gericht erscheinen. Die Polizeibeamten, die sie dorthin brachten, wiesen einen der Häftlinge an, sich nackt auszuziehen. Als dieser sich weigerte, seine Unterhose auszuziehen, wurde er geschlagen und mit Handschellen an die Wand gefesselt. Andere Gefangene wurden ebenfalls geschlagen. Als der Polizeikonvoi am nächsten Tag eintraf, um die Gefangenen zum Gericht zu bringen, weigerten sich diese, ihre Zellen zu verlassen, aus Protest gegen die Ereignisse am Vortag. Die Gefängnisaufsicht rief daraufhin die schnelle Eingreiftruppe zu Hilfe, die wahllos auf Gefangene eingeschlagen haben soll.

Tod in Gewahrsam

Im Januar 2010 erklärte der stellvertretende Leiter der Strafvollzugsbehörde, dass die medizinische Versorgung in den Gefängnissen unzureichend sei. Häftlingen war es nicht erlaubt, das Gefängnis zu verlassen, um sich außerhalb der Haftanstalt medizinisch behandeln zu lassen.

Tamaz Kardava starb am 7. April im Krankenhaus, weil man ihm zuvor die notwendige medizinische Versorgung verweigert hatte. Tamaz Kardava, ein georgischer Staatsangehöriger, der vor dem Konflikt in Abchasien geflüchtet war, litt bereits an Hepatitis C, als er im August 2008 in der Ukraine festgenommen wurde. Berichten zufolge wurde er auf der Polizeiwache des Kiewer Bezirks Shevchenkovskiy gefoltert, um ihn zu dem “Geständnis” zu zwingen, einen Einbruchdiebstahl begangen zu haben. Medizinische Gutachten bestätigten, dass er brutal geschlagen und mit einem Polizeiknüppel vergewaltigt worden war. In den letzten beiden Monaten seiner Untersuchungshaft hatte man ihm jegliche medizinische Behandlung für seine Krankheit verweigert, und sein Gesundheitszustand hatte sich dramatisch verschlechtert. Am 30. März lag er sechs Stunden lang auf einer Bahre auf dem Boden eines Gerichtssaals im Gericht von Shevchenkovskiy in Kiew. Der Antrag seines Anwalts, ihn sofort ins Krankenhaus bringen zu lassen, wurde vom Richter zurückgewiesen.

Menschenrechtsverteidiger

Die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern und NGOs wurde durch Gerichtsentscheidungen und tätliche Übergriffe behindert. Mindestens drei Menschenrechtsverteidiger waren wegen ihres rechtmäßigen Engagements für die Menschenrechte Angriffen ausgesetzt.

Im Mai 2010 wurde Andrei Fedosov, der Vorsitzende der Organisation Uzer, die sich für die Rechte geistig behinderter Menschen einsetzt, von unbekannten Männern angegriffen. Er war zuvor bereits telefonisch bedroht worden. Die Polizei weigerte sich jedoch, seine Anzeige aufzunehmen und wurde nicht tätig. Im Juli wurde er im Zusammenhang mit einer Straftat, die er zehn Jahre zuvor, im Alter von 15 Jahren begangen haben soll, einen Tag lang in Haft genommen. Am 20. September wurde die Klage gegen ihn fallengelassen, da sich nachweisen ließ, dass er zum fraglichen Zeitpunkt in einer geschlossenen Kinderklinik war und somit nicht als Täter in Frage kam.

Am 29. Oktober 2010 ordnete ein Gericht in Winnyzja an, dass sich der Gewerkschafter Andrei Bondarenko einer psychiatrischen Zwangsuntersuchung zu unterziehen habe. Ein Rechtsmittel gegen das Urteil wurde im November abgelehnt. Andrei Bondarenko hatte bisher nicht unter psychischen Erkrankungen gelitten und bereits drei psychiatrische Untersuchungen absolviert, die letzte davon im Oktober, um seine Gesundheit nachzuweisen. Die Staatsanwaltschaft begründete eine erneute Untersuchung u.a. mit einem “übermäßigen Bewusstsein für seine eigenen Rechte und die Rechte anderer und seiner unkontrollierbaren Bereitschaft, diese Rechte auf unrealistische Weise zu verteidigen”. Andrei Bondarenko hatte sich für die Rechte der Saisonarbeiter in den Zuckerrübenfabriken im Bezirk Winnyzja eingesetzt und dabei Korruption in den Führungsetagen aufgedeckt.

Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten

Asylsuchende wurden in der Ukraine weiterhin Opfer von willkürlichen Inhaftierungen, Rassismus und Erpressung durch die Polizei. Sie liefen außerdem Gefahr, in Länder zurückgeführt zu werden, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Da es kein angemessenes Asylverfahren gab, genossen sie keinen ausreichenden Schutz.

Im Januar 2010 trat das Rückübernahmeabkommen für Angehörige von Drittstaaten zwischen der EU und der Ukraine in Kraft. Nach diesem Abkommen können EU-Staaten Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus in die Ukraine zurückführen, sofern sie über die Ukraine in die EU eingereist sind. Der Internationalen Organisation für Migration zufolge wurden zwischen Januar und Juli 590 Personen im Rahmen des Rückübernahmeabkommens zurückgeführt. Es lagen Berichte vor, dass Migranten in der Abschiebehaft geschlagen oder anderweitig misshandelt wurden. Zudem sollen sich unter den zurückgeführten Personen auch Asylsuchende befunden haben, obwohl das Rückübernahmeabkommen nur für “Personen mit rechtswidrigem Aufenthalt” gilt.

Ende 2010 warteten vier Asylsuchende aus Usbekistan – Umid Khamroev, Kosim Dadakhanov, Utkir Akramov und Zikrillo Kholikov – in Haft auf ihre Auslieferung nach Usbekistan. Den vier Männern wurde dort u.a. Zugehörigkeit zu einer illegalen religiösen oder extremistischen Organisation, Verbreitung von Materialien, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden, sowie versuchter Angriff auf die Verfassungsordnung zur Last gelegt. Sie waren bei einer Rückkehr dem Risiko von Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt. Im Juli forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Regierung offiziell auf, die Asylsuchenden nicht nach Usbekistan abzuschieben, bis ihr Fall genau untersucht worden sei. Er zog diese Forderung jedoch nach Zusagen zurück, dass die Männer erst dann abgeschoben würden, wenn alle Mittel des Asylverfahrens ausgeschöpft seien.

Rassismus

Die Polizei nahm weiterhin Menschen wegen ihrer Hautfarbe fest und inhaftierte sie.

Am 29. Januar 2010 forderten drei Polizeibeamte in Zivil die beiden Somalier Ismail Abdi Ahmed und Ibrahim Muhammad Abdi vor ihrem Wohngebäude auf, ihre Papiere zu zeigen. Die Polizeibeamten sollen sich dann mit Gewalt Zugriff zu ihrer Wohnung verschafft, diese ohne Durchsuchungsbefehl durchsucht und einen der Bewohner mit der Faust geschlagen haben. Dann entnahmen sie der Tasche einer Jeanshose, die Ibrahim Muhammad Abdi gehörte, 250 US-Dollar. Während des gesamten Vorfalls wurden die Somalier von den Polizisten als “Piraten” bezeichnet. Am 13. Februar erschienen zwei der Polizeibeamten erneut vor der Wohnung und forderten die somalischen Bewohner auf, ihre öffentliche Aussage zu der Durchsuchung zurückzuziehen und sich dabei filmen zu lassen. Die Somalier weigerten sich jedoch, die Tür zu öffnen, und die Beamten zogen nach einigen Stunden wieder ab.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im Mai und Juni 2010 wurden friedlich Demonstrierende, die gegen das illegale Fällen von Bäumen in der Stadt Charkiw protestierten, von Angehörigen der sogenannten Stadtwache (privaten Sicherheitskräften im Dienst der Stadtverwaltung) geschlagen. Einigen wurde später die medizinische Versorgung verweigert, so auch Liubov Melnik, die nach Schlägen der “Stadtwächter” ins Krankenhaus gebracht werden musste. Dem Vernehmen nach hatten Angehörige der Stadtwache sie aufgefordert, sie solle verschweigen, dass sie geschlagen worden sei, und als Grund für ihre Verletzungen angeben, sie sei gestürzt. Als sie dies ablehnte, wurde sie vom Krankenhaus darüber informiert, dass man keine freien Betten habe und sie entlassen müsse. Anschließend weigerten sich drei weitere Krankenhäuser in Charkiw, sie zu behandeln. Am 2. Juni wurden Demonstrierende, die sich auf den Bäumen befanden, verletzt, als Holzfäller damit begannen, die Bäume abzusägen.

Nach Berichten von Demonstrierenden standen Polizisten untätig daneben, als die “Stadtwächter” Protestierende und Journalisten verprügelten. Am 28. Mai wurden zwischen zehn und zwölf Personen für etwa acht Stunden von der Polizei inhaftiert, bevor sie dem Haftrichter vorgeführt wurden. Andrei Yevarnitsky und Denis Chernega wurden am 9. Juni wegen “böswilliger Weigerung, einem Polizeibeamten Folge zu leisten” zu 15 Tagen Haft verurteilt. Aus Videomaterial zu den Ereignissen ging jedoch hervor, dass die beiden Demonstranten den Beamten friedlich gefolgt waren.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Delegierte von Amnesty International besuchten die Ukraine im Januar, April und November.

5. April 2023