Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine, der mit der Invasion im Februar 2022 eine weitere Eskalationsstufe erreichte, trifft vulnerable Gruppen in der Ukraine besonders hart. Dazu zählen auch ältere Menschen, welche bereits vor dem Krieg unter mangelndem Schutz litten. Mit dem Krieg hat sich ihre Situation vielfach verschlechtert und es sind viele neue Faktoren hinzugekommen, welche ihre Lebensqualität beeinträchtigen sowie ihr Leben und ihre Rechte bedrohen. Der Amnesty International-Bericht „‘They Live in the Dark‘. Older People’s Isolation and Inadequate Access to Housing Amid Russia’s Invasion of Ukraine“ zeigt die Schicksale älterer Menschen im andauernden Ukrainekrieg auf und identifiziert rechtliche Lücken und Probleme, die behoben werden müssen, um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und auch im Krieg ihre Rechte zu schützen.
Ältere Menschen können die vielfältigen Herausforderungen, welche der russische Angriffskrieg mit sich bringt, oftmals nicht allein bewältigen. Dazu zählt der mangelnde Zugang zu Unterkünften, Hilfsangeboten und zur Gesundheitsfürsorge. Das angeschlagene und überlastete ukrainische Pflegesystem wird der steigenden Zahl pflegebedürftiger, eingeschränkter und verletzter Menschen nicht gerecht. Zudem sind die Notunterkünfte, wo andere Vertriebene Obdach suchen, oft nicht barrierefrei. In der Folge werden ältere Menschen meist in speziellen Institutionen untergebracht, getrennt von ihren Angehörigen und auf unbestimmte Zeit segregiert und isoliert. Sie sind in diesen Institutionen oft Misshandlungen und Vernachlässigung ausgesetzt. Dies sind Folgen aus den gesetzlichen Lücken und Unklarheiten der Rechte älterer Menschen als auch ihrer mangelnden Garantie und Umsetzung durch die ukrainische Regierung. Hinzu kommen zunehmende Intransparenz über Anzahl und Hilfsbedürftigkeit älterer Menschen, generelle Versorgungsknappheit, eine Zunahme an kriegsbedingten Verletzungen von älteren Menschen und der Verlust von Hab und Gut. All diese Faktoren führen zu eklatanten Verletzungen der Rechte älterer Menschen, wie dem Recht auf Gesundheit und darauf, als freie und gleiche Menschen unter anderen leben zu dürfen.
Fallbeispiel: Drei Schwestern im Krieg
Da einige Unterkünfte nicht barrierefrei sind, müssen ältere Menschen und Menschen mit Behinderung oftmals anderswo untergebracht werden. Das führt in vielen Fällen zur Trennung von ihren Familien. So auch bei der 73-jährigen Olha Tsibinyova, die nicht ohne Hilfe gehen kann und nach der Zerstörung ihres Hauses durch einen russischen Angriff im März 2022 ihr Heimatdorf Mala Komyshuvakha in der Region Charkiv verlassen musste. Zuvor hatten sich ihre beiden jüngeren Schwestern Tetiana and Natalia um sie gekümmert. Während Tetiana und Natalia in einer Schule unterkamen, musste Olha in einem Krankenhaus und später in einer Einrichtung für ältere Menschen und Menschen mit Behinderung untergebracht werden.
Tetiana erinnert sich an den Abschied von ihrer Schwester: „[Ich habe Olha gesagt], ‚es tut mir leid, sei bitte nicht traurig, ich kann dich einfach nicht mit mir nehmen‘ … Sie war die einzige bettlägige Person… Sie war sehr traurig, ich hatte mich um sie gekümmert und sie hatte sich an mich gewöhnt… Wir hätten nie gedacht, dass es für so lange sein würde.“
Zur Zeit des Berichts sind die Schwestern 18 Monate voneinander getrennt. Olha verbringt die meiste Zeit liegend im Bett, ihr wird lediglich für vereinzelte Arzttermine herausgeholfen. Ihre Schwestern haben kaum Möglichkeit, sie zu sehen oder wieder aufzunehmen: Tetiana ist noch in der 2 Stunden entfernten Schule untergebracht und diese Distanz ist unmöglich zu überbrücken. Natalia lebt wieder im Dorf, muss sich aber eine kleine Wohnung mit ihrer Tochter und zwei Enkeln teilen, sodass sie Olha nicht aufnehmen kann.
Natalia erzählte, dass sie sich früher ausmalte, ihre älteren Jahre im Dorf zu verbringen und dort beerdigt zu werden. Aber, so Natalia: „Jetzt sind wir alle verstreut worden. Wir sind mit unseren Problemen auf uns allein gestellt.“
Es ist notwendig, dass ältere Menschen stärker ins Bewusstsein internationaler und regionaler Hilfen rücken, sodass ihnen angemessene Hilfe und der Schutz ihrer Rechte zuteil werden.
Amnesty International sieht die Russische Föderation in Verantwortung, den Krieg zu stoppen und damit die Menschenrechtsverletzungen zu beenden. Auch die ukrainische Regierung muss ihrer Verantwortung nachkommen, die Rechte älterer und eingeschränkter Menschen zu schützen. Sie ist dabei auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen.
Eine deutschsprachige Zusammenfassung des Berichts „‘They Live in the Dark‘. Older People’s Isolation and Inadequate Access to Housing Amid Russia’s Invasion of Ukraine“ finden Sie hier.
Hier weiterlesen:
- englischsprachiger Bericht “‘They Live in the Dark‘. Older People’s Isolation and Inadequate Access to Housing Amid Russia’s Invasion of Ukraine“ von Dezember 2023 sowie deutschsprachige Pressemitteilung zum Bericht vom 1. Dezember 2023
- englischsprachiger Bericht “‘I used to have a home’: Older people’s experience of war, displacement, and access to housing in Ukraine” von Dezember 2022 sowie deutschsprachige Pressemitteilung zum Bericht vom 6. Dezember 2022
- deutschsprachiger Beitrag aus dem Amnesty Journal „Diese Gruppen werden vernachlässigt“ – Interview mit Laura Mills, Amnesty International, vom 22. Februar 2024
- kurzer deutschsprachiger Tätigkeitsbericht von Amnesty International “Ältere Menschen in der Ukraine schützen” vom 13. Mai 2024
- englischsprachiger Kurzbericht “Submission to the UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities” vom 19. Juli 2024
Dokumentarfilm und Video:
- Dokumentarfilm “Dreaming in the Shadows” der ukrainischen Filmemacherin Marina Chankova mit Portraits dreier älterer Menschen (15 min., Russisch/Ukrainisch mit engl. UT)
- Kurzvideo “Ukraine: Surviving War as an Older Person” (ca. 6 min, Englisch sowie Russisch/Ukrainisch mit engl. UT).